Das Haar in der Suppe

Kulinarische Abenteuer China 1987

Wenn ich heute die vielen, mit leuchtenden Reklamen versehenen Restaurants aller Geschmacksrichtungen in chinesischen Städten sehe, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, dass es mal ganz, ganz anders war.

Als ich 1987 plante, nach China zu reisen, warnte mich ein Bekannter, dass es kaum Restaurants gäbe und wenn, dann würde man die nicht als solche erkennen. Er unkte, dass ich aufgrund dieses Mangels möglicherweise gar an Hunger leiden müsste oder in die teuren Hotelrestaurants gehen müsste. Mich machte das damals wirklich nachdenklich. Essen und neue Gerichte kennenzulernen ist für mich ein Hauptgenuss auf Reisen. Auf welche kulinarische Abenteuer würde ich mich einlassen müssen?

Meine ersten Tage in Xi’an schienen dem Mann recht zugeben

Erkennbare Restaurants gab es kaum, Speisekarten waren für mich unleserlich und außerdem aßen die Chinesen zu Zeiten, an denen ich immer gerade unterwegs war. Im Freundschaftsladen kaufte ich mir ein paar Schokoriegel, die schnell aufgegessen waren. Bald aber entwickelte ich einen Blick für Restaurants.

Es gab damals zwei Arten: Die kleinen privaten Restaurants mit zwei bis acht Tischen und die großen staatlichen Restaurants mit dem Charme eines DDR-Bahnhofswartesaals. Alle boten eine große Herausforderung für mich: Ich konnte die Speisekarte, sofern überhaupt vorhanden, nicht lesen! Und damals sprach niemand Englisch. Außer in der Backpackerhochburg Yangshuo in Südchina gab es keine englischsprachigen Speisekarten.

Kunming McD
Heute gibt es überall moderne Fastfoodrestaurants

Staatliche Restaurants

Die staatlichen Restaurants waren leichter zu finden und meistens nicht so voll wie die privaten. Da traute ich mich schnell rein, auch alleine. Vor dem Verzehren der Speisen musste man einige Hürden bewältigen: An einem Schalter bezahlte man sein gewünschtes Gericht. Das Wünschen bestand aus dem Zeigen auf das unlesbare Gekritzel auf einer Tafel. Dann wurde man weitergewinkt zu der Essensausgabe, gab seinen Bon oder Chip ab und bekam dann eine Schüssel mit Reis und Gemüse. Was genau, war jedes Mal eine neue Überraschung. Irgendwann hatte ich mich dran gewöhnt.

Es gab auch Highlights, wenn ich mal ein kleines privates Restaurant fand, mit Reisekumpeln gemeinsam essen gehen konnte und das Glück mir Hühnchen mit Erdnüssen, feine Kartoffelstreifen oder Tomate mit Rührei bescherte. Später kam ich noch zu so merkwürdigen Genüssen wie Eier (Spiegeleier) süßsauer und pfannengerührtes Stroh.

Kulinarische Abenteuer in Kunming 1987

Auszug aus meinem Tagebuch
09.11.1987 Kunming

Am Abend gehen John (der ein wenig Chinesisch spricht), Anita und ich zum Essen in die Stadt. Wieder suchen wir lange vergeblich nach einem netten Restaurant. Die vielen kleinen privaten Restaurants sind alle sehr voll.

Schliesslich gehen wir in ein großes staatliches. Eine junge Kellnerin fragt uns nach unseren Wünschen. Wir ziehen meinen Sprachführer zu Rate. Sie nimmt ihn uns aus der Hand und zeigt auf verschiedene Gerichte, die wir bestellen können. Auf diese Weise stellen wir folgendes Menü zusammen:
Zweimal gebratenes Schweinefleisch
Tofu
Spiegelei
scharfe, gewürzte Suppe
Kohl

Natürlich bestellen wir dazu Reis und Bier.

Als erstes wird eine große Schüssel mit Suppe gebracht. Darin befinden sich Tofu und eine Reihe unidentifizierbarer Zutaten. Einmal fische ich sogar einen kleinen Tintenfisch aus der Brühe. Wir rätseln eine Weile, ob das nun die bestellte Suppe oder der Tofu ist. Dann gibt es Weisskohl mit getrockneten Krabben. Das zweimal gebratene Schweinefleisch entpuppt sich als gebratene schiere Speckstreifen. Die Sosse dazu schmeckt allerdings sehr gut.

Zum Schluss bringt das Mädchen noch eine riesige Schüssel mit Suppe.

Zu unserem Erstaunen nimmt sie John die Stäbchen aus der Hand und fischt mit dem falschen Ende in der Schüssel herum. Dann gibt sie John die Stäbchen zurück. Wir haben mit offenen Mündern dem Vorgang zugeschaut. John fragt nach und erklärt uns, dass die Kellnerin meinte, es sei ein Haar in der Suppe, das sie für uns entfernen wollte. Aber sie hat kein Haar in der Suppe gefunden. Jetzt ist es mit unserer Beherrschung vorbei. Vor Lachen stehen uns die Tränen in den Augen. Erst dieses merkwürdige Überraschungsessen und dann noch so etwas! Zu allem ist die Suppe weder scharf noch überhaupt gewürzt. Das Spiegelei ist gar nicht aufgetaucht.

Leider gab es damals noch keine Digi-Cams. Man hat nicht einfach alles fotografiert, was einem in den Weg kam. Ich habe immer sehr sorgfältig überlegt, was ich fotografieren wollte. Deshalb gibt es von diesem legendären aber unfotogenen Essen kein Foto.

Aber, da ich diesen Artikel einfach nicht ohne Foto durchgehen lassen kann, hier ein Blick auf die heutige Essenskultur.

Gala Dinner
Das große Festessen

Nicht immer kulinarische Abenteuer, aber meistens lecker.

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4 Gedanken zu „Das Haar in der Suppe“

  1. Hallo ,ich war auch im Jahr 1987 mit einem meiner Söhne für eine Woche in Peking, es war eine Reine an die ich noch immer sehr starke Erinnerungen habe. Schade ich habe versäumt nochmals dorthin zu reise, Ich hätte so gern in Xian die Tonsoldaten gesehen
    Gruß Dieter Dietz

  2. Da hast Du einiges erlebt in dieser Zeit, haha. In Russland war es ähnlich, kalte Spiegeleier zum Frühstück, Dutzende Teller bereitgestellt, Kohl, ein bisschen Schwein, you named it. Von wegen mit dem Finger zeigen: In den 70er Jahren, als in Japan noch niemand Englisch sprach, kopierte (kritzelte) ich in Japan die Schriftzeichen eines aus Plastik oder Wachs gefertigten Tellers Spaghetti, der im Fenster ausgestellt war, auf die Hand, nahm den Lift zum Restaurant und zeigte meine Hand, „aah, Sapaghetti, hai!“ Reisen ist schön.

  3. Dein Bericht hat mir ein Lächeln aufs Gesicht gezaubert. Auch wenn ich kein Kantonesisch kann und nur einige Worte Mandarin, die Kanji-Zeichen könnte ich lesen. Sofern sie in China und Japan das Gleiche bedeuten. Und das ist ja leider nicht immer der Fall.

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