06.04.1991: Der große Aufbruch: Bedenken, Unsicherheiten, Glück

Der 06.04.1991 war für mich der Tag, an dem ich den bis dahin meist geraden und ruhigen Lebensweg verließ und ich mein großes Abenteuer begann. Meine Reise mit dem Rucksack durch Asien hat den zweiten Teil meines Lebens sehr geprägt. Lest hier, wie alles begann.

Backpacking durch Asien

Backpacking durch Asien. Ich stehe gestiefelt und gespornt vor dem Haus in Hannover, fertig zum Aufbruch.
Aufbruch in Hannover bei schönstem Frühlingswetter

Am 06.04.1991 brach ich auf: 18 Monate Asien mit dem Rucksack waren das Ergebnis.

Am 06.04.1992 steckte ich mitten im Himalaya in Nepal und versuchte mich an einem Trekking um den Annapurna

06.04.2019: 28 Jahre danach

Noch heute klingen mir die Worte meiner Mutter im Ohr, die sie mir bei meiner Abfahrt zuflüsterte: „Und wenn Du in drei Monaten merkst, dass das nichts war, wenn Du keine Lust mehr hast, dann kannst Du jederzeit zurück kommen, Dich ins Bett verkriechen und Dich von mir verwöhnen lassen, Wunden lecken, bis Du wieder bereit bist für das Leben in Deutschland!“. Mit diesem Sicherheitsnetz konnte ich gut reisen. Übrigens war ich bei meinem Aufbruch 36 Jahre alt, hatte einen gutbezahlten Job und eine voll eingerichtete Wohnung aufgegeben. Für eine unbestimmte Zeit Backpacking durch Asien.

Die Entscheidung und was danach bis zum Aufbruch passierte

Ich bin immer schon gerne gereist, habe oft voll Sehnsucht den Menschen zugehört, die von ihren Auszeiten, von endlosen Reisen, vom Backpacking durch Asien und die Welt erzählten. Die Sehnsucht wuchs, selbst einmal so ohne Limit reisen zu können.

Im Februar 1990 passierte es! Betriebsausflug nach Juist. Bei einem feuchtfröhlichen Abendessen beklagten sich einige (neue) Kollegen darüber, dass wir (alten) Kollegen nicht so oft mit ihnen was unternehmen würden. Zwei-drei Leute waren mit dem neuen Chef von Süddeutschland nach Hannover gezogen und vermissten verständlicherweise ihr soziales Umfeld. Doch von uns „Alten“ zu erwarten, dass wir nun ganz für sie da waren, fand ich doch ziemlich übertrieben. Mindestens einmal in der Woche gemeinsam was zu unternehmen, empfand ich als Zumutung.

Eine ältere Kollegin sprach aus, was ich damals auch dachte: „Ich habe eine Familie und andere Interessen, als mit Euch ständig essen zu gehen!“. Ich hatte zwar keine unmittelbare Familie aber einige Hobbies und gute Freunde, um die ich mich gerne kümmerte. Viel Zeit hatte ich nicht übrig.

Dann passierte etwas, das mich umgehend den Entschluss fassen ließ, dass es so nicht weiterging. Die Kollegin ging auf ihr Zimmer und die übrigen (neuen) begannen, aufs übelste über sie zu lästern. Ich war schon damals etwas konfliktscheu und zog mich gleichfalls zurück.

Aber ich war schon immer sehr entscheidungsfreudig! Kaum war ich alleine in meinem Zimmer, stand fest: Ich werde kündigen! Doch was dann? Würde es in einem neuen Job anders und besser sein? Ein zartes Stimmchen meldete sich in meinem Hinterkopf: „In einem Jahr wird Deine Lebensversicherung fällig. Dann hast Du genug Geld, um Dir Träume zu erfüllen! Spar noch etwas dazu, damit kannst Du lange reisen!“

Vorbereitung

Innerhalb weniger Tage standen die Rahmenbedingungen: Ungefährer Zeitpunkt für den Aufbruch und die grobe Richtung. Mein Backpacking durch Asien sollte mit der Transsibirischen Eisenbahn starten. Ein Fixpunkt war auch Japan, für das ich den Japan Railpass nutzen wollte. Der musste 3 Monate nach Kauf in Deutschland angetreten werden.

Die Zeit bis zum Start verging mit Planungen und Vervollständigung meiner Ausrüstung. Wenn der Wunsch nach einem schnellen Aufbruch zu drängend wurde, stöberte ich stundenlang in entsprechenden Globetrotter-Läden. Manchmal hatte ich auch ein wenig Angst vor meiner eigene Courage. Wie würde das sein – monatelanges, vielleicht jahrelanges, Backpacking durch Asien?

Die Sorgen der Freunde

Nachdem ich ca. 3 Monate vor meinem Aufbruch die Bombe platzen ließ, kamen sie, die Bedenkenträger mit ihren besorgten Fragen.

„Hast du keine Angst?“

„Was machst du, wenn du krank wirst (überfallen wirst, dich verirrst, mutterseelenallein irgendwo stehst und nicht mehr weiterkommst, das Geld ausgeht)?“

„Warum fährst du allein?“

„Wie regelst du deine Geldangelegenheiten?“

„Wie willst du dich verständigen in Ländern, deren Sprache du nicht sprechen kannst?“

Horrorszenarien wurden mir immer wieder von meinen Freunden (meine Eltern, vor allem meine Mutter, waren sehr viel entspannter) ausgemalt. Und am Ende aller Diskussionen kam unfehlbar der Satz:

„Ich bewundere dich!“ oder

„Dass du den Mut dazu hast!!“

Mit meinem Blog habe ich die Gelegenheit, diese Fragen und Statements ausführlich zu beantworten. Ich möchte zeigen, dass ich nicht mutiger oder abenteuerlustiger bin als meine Nachbarn und die Leute, die mich so bewundern. Ich möchte auch zeigen, dass so eine Reise weder gefährlich noch teuer sein muss.

Ein weiterer Aspekt: Wie war das damals, Backpacking durch Asien als es weder Internet noch Handys gab? Auch stand nicht an jeder Ecke ein Geldautomat. War es damals einfacher oder schwieriger zu reisen? Seht selbst!

Angst

Angst vor dem Reisen ohne Organisation, ohne Gruppe hatte ich nicht. Schon vor meinem großen Aufbruch war ich in meinem Jahresurlaub mit dem Rucksack durch Asien gereist. Ich war auf eigene Faust in Sri Lanka, Thailand und China. Warum sollte ich nicht aus einem vierwöchigen Urlaub eine mehrere Monate dauernde Reise machen? Der einzige Unterschied war die Dauer. Mit ein wenig Organisation konnte ich das ohne weiteres schaffen.

Sicherheit durch Vorbereitung

Meine Vorbereitungen für die „Große Reise“ waren gründlich und umfassend: Glücklicherweise fand ich eine preisgünstige Krankenversicherung für die voraussichtliche Reisezeit von 1 bis 2 Jahren. Auch eine Unfallversicherung war mir wichtig.

Um nicht mein ganzes Geld von Anfang an dabei haben zu müssen, besorgte ich mir über meinen Vater eine American Express-Kreditkarte. Damit konnte ich mir überall in den großen Städten problemlos Nachschub an Reiseschecks* besorgen.

Meinem Vater erteilte ich Kontovollmacht. Das gab mir die Sicherheit, dass im Notfall jemand, der mein volles Vertrauen besaß, an mein Konto konnte. Und mein Vater hatte die Übersicht, wie viel Geld ich ausgab, was ihn seinerseits beruhigte.

Tagelang war ich bei verschiedenen Ärzten, um mich auf „Herz und Nieren“ prüfen zu lassen. Auch meine Zähne ließ ich generalüberholen, denn ich hatte keine Lust, irgendwo in China zu einem einheimischen Zahnarzt gehen zu müssen, womöglich noch zu einem mit Tretbohrer und riesiger Zange!

Finanzen

Und teuer? Nein, teuer war meine Reise bestimmt nicht! Für alles zusammen, eingeschlossen meine Fahrkarte für die Transsibirische Eisenbahn, der Japan Rail Pass, sämtliche Versicherungen habe ich in 18 Monaten ungefähr 20.000,- DM ausgegeben. Andere Leute geben das Geld für ein Auto oder eine Wohnungseinrichtung aus.

Ich wäre sogar mit noch viel weniger Geld ausgekommen oder hätte länger unterwegs sein können, wenn ich nicht nach Japan und Südkorea gegangen wäre. Die drei Monate in diesen recht teuren Ländern haben mich rund 6000,- DM gekostet, obwohl ich dort sehr bescheiden gelebt habe. Doch ich wollte unbedingt dorthin und ich habe es nicht bereut.

Mut, den Job zu kündigen

Mut gehörte allenfalls dazu, in Anbetracht der wirtschaftlichen Situation in Deutschland (1991) kurz nach der Wende einen sicheren Arbeitsplatz und eine schöne, preiswerte Wohnung aufzugeben.

Nun, das Kündigen meines Jobs wurde mir wie schon beschrieben durch Mobbing und ein schlimmes Arbeitsklima leicht gemacht. Neue Kollegen aus Süddeutschland hatten Schwierigkeiten, sich im Norden einzuleben. Sie akzeptierten auch nicht, dass wir Alteingessenen hier schon über Freunde und ein soziales Umfeld verfügten, so dass wir unsere freien Abende nicht immer mit ihnen verbringen wollten. Leider saßen zwei von den Neuen an entscheidenden Stellen.

Ich wäre sicher nicht aufgebrochen, hätte ich eine Arbeit gehabt, die mir rundum Spaß machte, und Kollegen, mit denen ich besser zurechtgekommen wäre.

Da ich eine gute Ausbildung habe und bei einer angesehenen Firma gearbeitet hatte, machte ich mir aber nicht wirklich Sorgen darüber, dass ich nach meiner Rückkehr Probleme haben würde, eine Stelle zu finden. Wer weiß, ob ich nicht unterwegs eine interessante Aufgabe fand!?

Die Wohnung aufgeben

Meine Wohnung aufzugeben oder nicht, war eine Frage der Vernunft. Ich wollte mich unabhängig machen von örtlichen Bindungen und irdischen Besitztümern. Ich wollte nicht zurückkehren müssen, sondern zurückkehren können. Und Ich wollte frei sein für den Fall, dass es mir irgendwo unterwegs gefiel und ich dort bleiben wollte. Oder für den Fall, dass ich in einer anderen deutschen Stadt eine Arbeit finden sollte.

Als ich meine Möbel verkaufte oder wegschmiss, lernte ich, mich von Dingen zu trennen. Nur von meinen Büchern konnte ich mich nicht lösen. Bücher und Diasammlung sowie ein wenig anderer Schnickschnack wurden in Kisten und Kartons bei meinen Eltern eingelagert.

Meine Freunde unterstützten mich

Von meinen Freunden erhielt ich sehr viel Unterstützung. Manche unkten, ich würde jetzt merken, wer meine wahren Freunde sind, und dass einige Freundschaften auf der Strecke bleiben würden. Ich bin glücklich, heute sagen zu können, dass ich nicht nur alle meine Freunde behalten habe, sondern auch etliche neue Freunde dazu gewonnen habe.

Alleine aufbrechen, alleine reisen

Damit bin ich beim „alleine“ reisen. Ich war während der 18 Monate meiner Reise so selten alleine, dass ich mich manchmal nach Einsamkeit oder Privatsphäre gesehnt habe. Wenn man in Schlafsälen übernachtet oder tagelang im Zug unterwegs ist, lernt man manchmal mehr Menschen näher kennen, als einem lieb ist.

Wegen meiner Reiserfahrung und meinem Alter (35/36) schlossen sich mir gerne Leute an, die wesentlich unselbständiger und jünger waren als ich. Das kann ziemlich lästig werden. Das Durchschnittsalter der Traveller in Asien beträgt ungefähr 22 Jahre (1991). Es sind mehr Frauen als Männer unterwegs. Ich habe selten Menschen meines Alters (damals 35 Jahre alt) getroffen.

Mit der Zeit bin ich immer bewusster alleine gereist. Ich habe mir, wenn es finanziell möglich war, gerne ein Einzelzimmer geleistet. Wenn ich aber lange nicht mehr auf andere Westler getroffen war, bin ich in Orte gefahren, die bekannt dafür waren, dass dort viele Traveller sein würden: z.B. Dali und Yangshuo in China.

Mir genügte es, tagsüber alleine meine Besichtigungen durchzuziehen und abends in einem netten Restaurant mit anderen Reisenden zusammenzutreffen und zu reden. Hin und wieder bin ich eine Zeit lang mit jemandem zusammen gereist, aber nie länger als 5 Wochen.

Die Zeit vor dem großen Aufbruch

Aus meinem Reisetagebuch 1991

Bitte immer dran denken, das war 1991, rund 1,5 Jahre nach dem Fall der Mauer.

Vor der Großen Asienreise

Die letzten 3 Monate vor meiner Abreise waren der reinste Alptraum:

Schlechte Stimmung am Arbeitsplatz

Seitdem ich gekündigt hatte, gönnten mir meine lieben Kolleginnen nicht mehr das Schwarze unterm Nagel. Neid zerfraß sie, denn ich hatte nicht nur gekündigt, sondern mich für unabhängig von der Arbeitstretmühle erklärt. Ich wollte „aussteigen“ und die nächsten Monate oder möglicherweise sogar Jahre auf Reisen in Fernost verbringen!

Der Golfkrieg machte sich auch bei uns, einem kleinen Reiseveranstalter, durch mangelnde Aufträge bemerkbar. Das war aber sicher nicht Grund genug, zum Chef zu laufen und zu behaupten: „Die Heckern tut nichts mehr, die hat keine Lust mehr!“

Als ich Anfang März 1991 eine schwere Grippe bekam, wäre ich beinahe nicht zum Arzt gegangen, nur damit keiner behaupten konnte, ich würde nur vorgeben, krank zu sein, ich hätte keine Lust mehr. Nachdem ich aber fast im Büro zusammengebrochen bin, war jeder vom Ernst meiner Krankheit überzeugt und ich konnte mich eine Woche ins Bett legen.

Na ja, der Golfkrieg hatte natürlich auch seinen Einfluss auf meine Gemütslage. Schließlich gab es sogar Leute, die den baldigen Ausbruch eines 3. Weltkrieges voraussagten. Die lange geplante Reise schien auf der Kippe zu stehen.

Meine beste Freundin

Meine Freundin Geli brach bei der bloßen Erwähnung meiner Pläne in Tränen aus. Ich ging mit meinen Nerven auf dem Zahnfleisch. Mein guter Freund Stephan (Anmerkung: Den habe ich übrigens 2003 geheiratet) schenkte mir zum Abschied seinen liebsten Glücksbringer, einen alten Flaschenöffner von der Union-Brauerei Dortmund.

Das waren die wichtigsten Dinge, die ich mitnahm: Das Zugticket lugt unter meinem Brustbeutel raus, Pass und Portemonnaie durften nicht fehlen - natürlich. Ich verfügte damals schon über ein elektronisches Notizbuch, vor allem für die Adressen meiner Freunde
Das waren die wichtigsten Dinge, die ich mitnahm: Das Zugticket lugt unter meinem Brustbeutel raus, Pass und Portemonnaie durften nicht fehlen – natürlich. Ich verfügte damals schon über ein elektronisches Notizbuch, vor allem für die Adressen meiner Freunde

Organisatorisches

Nebenbei musste ich Berge von Verwaltungskram erledigen: die Wohnung kündigen (mein Vermieter kam Wochen nach der Kündigung auf die Idee, dass ich die Fristen nicht eingehalten hätte. Dem hab‘ ich was erzählt!) Meine gesammelten Versicherungen kündigen. Auch hier gab es Probleme mit Fristen etc., Visa beantragen, neue Versicherungen abschließen (welche Auslandskrankenversicherung ist am preiswertesten?!)… Mein Hausrat musste verkauft, verschenkt, verpackt und eingelagert oder weggeschmissen werden. Wochenlang war ich bei verschiedenen Ärzten für einen gründlichen Gesundheitsscheck.

Natürlich brauchte ich für das Backpacking durch Asien für die ersten Stationen UdSSR und China Visa! So viel Bürokratie!

Zum Schluss war meine Wohnung leer und ich am Ende meiner Kräfte. Ich wohnte die letzte Woche bei Geli, die ein paar Tage verreist war. In diesen Tagen war ich entweder am heulen oder betrunken. Aber mein Rucksack war gepackt.

Mein Rucksack fürs Backpacking durch Asien

Dieser Rucksack! Ich hatte viel zu viel in ihn hineingequetscht. Dreimal hatte ich alles sorgfältig ein- und wieder ausgepackt. Ich war mir mittlerweile bei jedem Stück sicher, dass ich das auch wirklich brauchte: 2 schwere Jeans, 1 leichte Hose, 2 Pullover, 1 Sweatshirt, 1 Strickjacke… vieles war austauschbar, wie ich später merkte. Der Rucksack wog weit über 20 Kg. Doch was soll’s?

Ich entschied mich, erst mal alles mitzunehmen, denn in Russland musste ich mit winterlichen Temperaturen rechnen und damit, dass ich während der langen Zugfahrt nichts waschen kann. In China würde es dann bald warm sein. Meine Erfahrungen im Überblick mit dem Backpacking durch Asien findet Ihr hier.

Es geht los! Zugfahrt von Hannover nach Moskau

Große Asienreise: Abschied von der Familie
Auf dem Bahnsteig am 06.04.1991. Warten auf den Zug nach Moskau

Hannover im April 1991: Ein wunderschöner Frühlingstag. Blauer Himmel. Milde Luft. Mein Zug fährt erst gegen 17:00 Uhr. Mittags hält es meine Freundin Geli und mich nicht mehr in der Wohnung. Wir bringen mein Gepäck zum Bahnhof und gehen zum Flohmarkt. Bei dem herrlichen Wetter ist er natürlich richtig voll. Ich treffe Leute, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Ein Abschiedsbier. Eine letzte Umarmung. Dann gehe ich schließlich alleine zum Bahnhof.

Dort warten schon meine Eltern und meine Schwester. Mein Leben scheint nur noch aus Abschied zu bestehen. Mein Gepäck im Zug. Ich stehe an der Zugtür und meine Familie auf dem Bahnsteig. Ich fühle mich wie befreit und ich muss aufpassen, dass ich nicht abhebe vor Glück. Alle anderen sind so traurig, dass ich gehe.

Der Zug fährt

Der Zug fährt mit einem Ruckeln ab. Ein letztes Winken. Ein Foto von der Familie auf dem Bahnsteig. Dann sitze ich im Zug und fahre. Ich bin unterwegs. Ich bin wirklich unterwegs! Mein Rucksack ist nun alles, was ich habe.

Draußen Gärten mit blühenden Tulpen und Narzissen. Ein Wald, der Boden bedeckt mit Buschwindröschen. Auf den Feldern sehe ich in der sinkenden Abendsonne Rehe, Hasen, Fasane und sogar einen Kranich. Alles leuchtet golden. Es ist fast zu viel. Mein Abenteuer „Backpacking durch Asien“ geht los!

Ich fahre durch die ehemalige DDR. Die Grenze mit ihrem früheren Minenstreifen ist noch deutlich zu erkennen. Es scheint sich nicht viel verändert zu haben. Auch in Berlin kann man die Mauer gut vom Zug aus erkennen. Ich fahre durch bis zum Ostbahnhof. Keine Grenzabfertigung mehr, kein Mindestumtausch.

Was für ein Gegensatz zu meinen früheren Besuchen in Ostberlin! Nur der Ostbahnhof, der Berliner Hauptbahnhof, wirkt noch ganz wie zu DDR-Zeiten: öde und trostlos. Das Mitropa-Cafe bietet keine gemütliche Überbrückung der Wartezeit, bis mein Zug nach Moskau abfährt.

Am Scheideweg – Umsteigen in Berlin

Also bin ich ganz früh auf dem Bahnsteig. Bis Mitternacht, wenn mein Zug nach Moskau kommt, habe ich noch mehr als eine Stunde Zeit. Ich kann mich schon mal im Warten üben. Denn aus Warten besteht das Reisen in der Hauptsache, wie ich immer wieder merken werde. Warten auf zugigen Bahnhöfen, warten auf den nächsten Bus… Backpacking durch Asien eben.

Eine Gruppe junger Leute verabschiedet einen Freund mit Gitarrenspiel und Liedern. Einige Russen schleppen Paket um Paket auf den Bahnsteig. Videogeräte, Fernseher, Computer. Es ist dunkel, kalter Wind zieht durch den Bahnhof.

Am gegenüberliegenden Bahnsteig steht der Zug, der gerade aus Moskau angekommen ist. Er wird weiter nach Köln fahren, also auch über Hannover… Ich starre den Zug wie gebannt an.

20 Minuten, bis er weiterfährt – 20 Minuten Zeit zu überlegen, ob ich nicht umkehre, heim zu Muttern – 20 Minuten, um darüber nachzudenken, ob ich diese lange Reise überhaupt will.

Ungewisse Zukunft, fremde Menschen, keine Freunde, ungewohntes Essen, unbequeme Betten sollen jetzt mein Alltag sein? Ich hatte mal eine schöne, gemütliche Wohnung, viele Freunde… 20 Minuten voller Zweifel, Unsicherheit, Angst vor dem Neuen, Unbekannten.

Aber nein, so schnell gebe ich nicht auf!

Schlafwagen nach Moskau

Im Zug nach Moskau finde ich schnell Kontakt zu Tatjana, einer Russin aus Baku. Sie spricht kein Wort Deutsch, ich nur wenig Russisch. Trotzdem verstehen wir uns gleich sehr gut.

Das Abenteuer beginnt. Langsam setzt sich der Zug in Bewegung und fährt hinaus in die Dunkelheit. Schnell bin ich eingeschlafen. Doch schon weckt mich ein Grenzsoldat. Passkontrolle an der polnischen Grenze. Mitten in der Nacht.

Der nächste Morgen ist grau und trübe. Antiklimax zu meiner Abfahrt gestern. Tatjana jammert, dass sie sich die Schulter beim Schlafen verrenkt hat. Polens Landschaft ist in winterlichen Nebel gehüllt, nur vereinzelt deuten grüne Knospen an den Bäumen den nahen Frühling an. Im Nachbarabteil sitzen einige junge Leute, die auch nach Beijing wollen. Schon bald sind wir eine fröhliche Gruppe voller Spannung auf das große Abenteuer.

Nachmittags beobachten wir gemeinsam das Umspuren an der russischen Grenze in Brest. Die Schienenbreite ist in der UdSSR eine andere als in Deutschland und Polen, deshalb werden andere Räder unter unsere Waggons geschoben. Hinter der Grenze in Russland ist kein Hauch von Frühling mehr zu sehen. Das Gras ist noch gelb vom winterlichen Frost und vom mittlerweile geschmolzenen Schnee niedergedrückt.

Die Aufregung, bald in Moskau anzukommen, lässt mich in dieser Nacht kaum schlafen. Wir werden früh von Unruhe auf dem Gang geweckt. Nebelschleier hindern die Sonne am Scheinen. Winter. Zwischen dunklen Tannen leuchten Schneefelder. Weiße, nackte Birken mischen sich in die dichten Nadelwälder. Manchmal ein Dorf aus niedrigen Holzhäusern, geduckt hinter hohen Holzzäunen. Eine russische Kirche mit Zwiebeltürmen. Dann künden ausgedehnte Siedlungen von kleinen Ferienhäusern, den Datschen, das nahe Moskau an.

Zwei Tage in Moskau: Das Leben ist leicht!

Moskau

Im Kiewer Bahnhof in Moskau empfängt uns ein Vertreter von Intourist, dem staatlichen Reisebüro der UdSSR. Er sorgt für unseren Taxitransfer zum Hotel Belgrad. Es ist ein komisches Gefühl, nach 3 Monaten wieder in Moskau zu sein, diesmal selbst als Tourist und nicht wie Silvester als Reiseleiterin. Damals hatte ich übrigens im gleichen Hotel gewohnt.

In Moskau werden wir in den zwei Tagen, bis morgen Abend die Transsibirische Eisenbahn abfährt, ein volles Besichtigungsprogramm haben. Deshalb stellt sich uns auch gleich unsere Reiseleiterin Irina vor, die uns bis Irkutsk begleiten wird.

Anmerkung: Neue strenge Bestimmungen hatten es damals praktisch unmöglich gemacht, eine Fahrkarte für den Zug ohne Programm etc. zu bekommen. Selbst die Möglichkeit, über Budapest oder Prag ein Ticket zu kaufen, gab es als Folge des Mauerfalls und der Wiedervereinigung nicht mehr. Ich war mehr oder weniger gezwungen, eine nicht ganz billige Pauschalreise zu buchen.

Hier in Moskau ist die Sammelstelle für alle, die diese Reise gebucht haben, mit Besichtigungen in Moskau und Vollpension während der Fahrt durch die UdSSR. Aus ganz Europa kommen die überwiegend sehr jungen Leute, aus Frankreich, Großbritannien, Schweden, Österreich… Als wir am nächsten Tag abfahren, sind wir rund 30 Leute, fast ein ganzer Wagen voll.

Die Arbat

Aber noch sind wir in Moskau. Das Wetter hat sich gebessert. Ich drücke mich vor meiner 3. Metro-Besichtigung und gehe mit Olaf auf die Arbat. Das ist Moskaus wunderschöne Flaniermeile mit Jugendstilhäusern rechts und links, Straßencafes und Souvenirhändlern. Sogar eine Band, die gekonnt Jazz spielt, finden wir. Wie verzaubert gehe ich bis zum Roten Platz. Wachablösung vor dem Lenin-Mausoleum. Warmer Sonnenschein, Musik, ein Eis im Straßencafe.

Ich gewöhne mich langsam an den Gedanken, dass es nun eine Weile so weitergehen wird. Ferien, Urlaub nicht nur 3 Wochen lang, sondern Backpacking durch Asien auf unabsehbare Zeit. Meine Finanzen sind für mindestens ein Jahr geregelt. Keine Verpflichtungen.

Vor allem jetzt am Anfang die Bequemlichkeiten einer Pauschalreise. Keine Sorgen – noch nicht – um die nächste Unterkunft, das nächste Fahrtziel, die nächste Fahrkarte, das nächste Essen. Ich lausche der Musik, ich sehe die Menschen vorbeihasten, ich habe Urlaub. Ich bin frei! Ein Glücksgefühl ergreift mich. Ich bin so glücklich, dass ich heulen könnte. Mein Backpacking durch Asien beginnt jetzt richtig!

Zur nächsten Etappe: 09.04. – 16.04.91 Abenteuer Transsib

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Ulrike

20 Gedanken zu „06.04.1991: Der große Aufbruch: Bedenken, Unsicherheiten, Glück“

  1. Liebe Marie,
    danke für deinen Kommentar und die lieben Worte!
    Ich war damals froh, dass ich schon etwas älter war, als ich aufbrach. Doch ist es bei vielen nur in der Zeit zwischen Schulabschluss und dem Aufbau des zukünftigen Lebens möglich ist, eine längere Reise zu machen. Wenn man erstmal eine Familie und einen guten Job hat, reist man nicht mehr so einfach los.
    LG
    Ulrike

  2. Liebe Ulrike,
    das ist wirklich ein sehr spannend geschriebener Bericht, der von sehr viel Mut berichtet (den muss man wirklich haben, wenn man so viel an Sicherheit aufgibt, um in die Ungewissheit zu reisen). Du solltest wirklich ein Buch schreiben, es wäre schade, wenn man diese Erlebnisse nicht zusammenhängend lesen kann. Ich würde es jedenfalls sofort kaufen. Du hast auch so viele Einzelheiten, Gedankengänge beschrieben, einfach wunderbar.
    Ich bin damals auch in eine ungewisse Zukunft aufgebrochen, aber da war ich jung und völlig unerfahren (mit 21 Jahren gerade volljährig), es war aber bei mir eher eine Verzweifelungstat, weil die ständige Bevormundung durch meinen Vater und die Lehrer nicht mehr ertragen konnte und nicht so abhängig sein wollte wie meine Mutter. Aber es hat mein Leben völlig umgekrempelt, es ist immer gut, wenn man von außen auf Deutschland blicken kann und nicht im kleinlichen Denken erstickt.
    Liebe Grüße Marie

  3. Danke! Ich wundere mich auch immer, wie sich manches ähnelt.Mehr Mut? Ich weiss nicht. Kann schon sein, denn heute weiss man viel eher, was auf einen zukommt. Und „Exotin“ bin ich heute mehr denn je, vor allem hier in Deutschland.
    Beste Grüße
    Ulrike

  4. Bei deinen Geschichten will ich am liebsten noch heute Abend die Kündigung einreichen und in den nächsten Zug steigen. Man spürt richtig die Aufregung, die du empfunden haben musst. Ich hoffe, wir können auch in wenigen Jahren einmal solche Geschichten erzählen.

  5. Danke für deinen Kommentar! Ich hab lange überlegt, ob ich diesen Satz wirklich so schreiben sollte, wie er genauso in meinem privaten Tagebuch steht. Aber so war das damals. Dauerkoma trifft es sehr gut. Dieser Wirbel von unterschiedlichsten starken Gefühlen, der einem das Gehirn vernebelt… Schön, dass das jemand versteht! Ich freue mich sehr, dass Dir meine Geschichten gefallen.

  6. Ein toller Bericht. Ich musste so schmunzeln bei dem Satz: „In diesen Tagen war ich entweder am Heulen oder betrunken.“ Genau so war mein Zustand vor 3 Jahren, als wir kurz vor der Abreise nach USA waren. Ständig kamen Freunde mit einer Flasche Sekt vorbei, um Good bye zu sagen… ich fühlte mich im Dauerkoma.
    Aber der Weg ins Ungewisse, das Erforschen einer neuen Kultur, frei zu sein von dem deutschen Alltag und Zwängen… ist etwas Wunderbares.

    Da man nie weiß, wo es uns noch hin verschlägt, lese ich deine Beiträge immer wieder gerne. Danke für deinen tollen Einblick in eine ganz andere Kultur.

  7. An den Aufbruch kann ich mich noch gut erinnern, schließlich stand ich mit den Eltern zusammen auf dem Bahnsteig. Wenige Tage vorher hatte ich noch jede Menge Hausrat und Klamotten zur Heilsarmee transportiert. Mit sehr gemischten Gefühlen sahen wir dem abfahrenden Zug nach. Aber wir haben immer daran geglaubt, dass alles gut geht. Und so war es dann auch! Die Erfahrungen dieser Reise sind unbedingt ein Buch wert!

  8. Danke, Mayumi! Deine lieben Worte geben mir den Schwung für den heutigen Tag, den ich gerade gebraucht habe!
    Mal sehen! eine Idee für ein Buch habe ich schon. Immer ganz ehrlich. Ich kann keine erfundenen Geschichten schreiben. 😉

  9. Dann sind eben zur Zeit diese Dinge wichtiger. Kann ich gut nachvollziehen. Habe meine alten Vater hier und kann auch nicht so, wie ich will.

  10. Danke! Manche würden gerne, aber trauen sich nicht. Ihnen bleibt dann die Hamstertretmühle Arbeit. Das verstehe ich sogar, wenn sie neidisch sind. doch es war schlimm, wie aus meinem freiwilligen Entschluss fast eine Flucht wurde.

  11. Hmm, ob ihm mein Bericht von damals, den ich demnächst veröffentliche, eine Entscheidungshilfe sein kann? Denn irgendwie hat er ja recht: Birken bis zum Horizont!

  12. Wow, die Transsibirische. Von der träume ich schon lange ! Mein potentieller Reisebegleiter ist noch nicht wirklich überzeugt. Er murmelt zu dem Thema immer „Birken, Birken, Birken“ *grins*

Ich freue mich auf Deinen Kommentar!