Zuletzt aktualisiert vor 1 Jahr
Gibt es Juden in China? In diesem 1. Teil meiner Artikelreihe begebe ich mich auf Spurensuche nach den ersten jüdischen Händlern entlang der Seidenstraße bis nach Kaifeng, der Hauptstadt der Nördlichen Song-Dynastie (960–1126). Was sind die Kaifeng Juden?
Was ist überhaupt ein Jude? Als „Jude“ werden Menschen bezeichnet, die nicht nur einem genau abgegrenzten Volk zugehörig sind, sondern auch alle Angehörigen der jüdischen Religion. Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat. Hinzu kommen Menschen, die zum Glauben übergetreten sind.
Juden in China?
Vielen ist gar nicht bewusst, dass es schon sehr früh Juden nach China verschlagen hat. Einer der ersten Berichte aus Europäischer Sicht ist der Folgende:
Barrows Reisen in China
„Das erste Volk, welches, so viel wir wissen, eine Reise nach China machte, war eine Kolonie Juden, die nach den Urkunden, welche ihre Nachkommen haben, und die, wie ich von einigen Missionären hörte, durch die Chinesische Geschichte in Ansehung der Zeit bestätigt werden, sich hier niederließ und kurz nach dem Alexanders Zug ein Verkehr mit Indien zustande gebracht hatte.
Auch ist es durchaus nicht unwahrscheinlich, dass dies kühne und fleißige Volk das erste war, welches den Seidenwurm, und die Kunst ihn zu warten, entweder aus Persien oder aus der Nachbarschaft in sein neues Land mitbrachte.“
Sir John Barrow (19.06.1764 – 23.11.1848) war einige Jahre als Mitglied der ersten britischen Gesandtschaft in China. Das war zum Ende des 18. Jahrhunderts. Er lernte chinesisch und wurde von der Britischen Regierung gerne als Berater zu China-Themen herangezogen.
Dies ist eine interessante Geschichte. Auch wenn ich nicht wirklich glaube, dass Juden bereits um 300 v. Chr. bis nach China gelangten, so ist es nicht unwahrscheinlich, dass sich bei den Truppen von Alexander dem Großen (356 – 323 v. Chr.) auch Juden befunden haben. Schließlich waren die Juden von Anfang an großartige Händler und das Reisen gewohnt.
Vom Mittelmeer nach Osten
Die Seidenstraße, also der Landweg vom Mittelmeerraum bis nach Zentral- und Ostchina, war schon lange vor unserer Zeitrechnung eine beliebte Handelsroute.
Man darf sich diese Straße allerdings nicht als eine Art Autobahn zwischen Stadt A und Stadt B vorstellen. Es gab viele Möglichkeiten, nach Osten (bzw. nach Westen) zu reisen. Dabei mussten hohe Gebirgspässe überwunden und schreckliche Wüsten durchquert werden. Die meisten Händler legten dabei mit ihren Waren nur Teilstrecken zurück.
Mit Pferden und Kamelen wurden die Waren über schwieriges Terrain befördert. Noch heute zeugen Reste der Karawansereien in Zentralasien von den Zeiten der Handelskarawanen.
Grausame Wüsten und Hochgebirge
Die Wüsten waren eine der Herausforderungen, die von den Händlern gemeistert werden mussten. Zum Beispiel die Kisilkum-Wüste, eine 200.000 qkm große Kies- und Sandwüste in Zentralasien. Heiß, trocken, staubig. Quer durch ging nicht, also mussten lange Umwege zurück gelegt werden. So auch die Taklamakan-Wüste im Westen Chinas, wo sich eine nördliche und eine südliche Route der Seidenstraße herausbildete.
Zwischen diesen Wüsten liegen die Berge des Pamir, Kunjerab, Tianshan und mehr. Teilweise um die 7.000m hoch. Hochebenen auf 3.000 und 4.000m Höhe zerrten an den Nerven und an der Gesundheit. Pässe, die über 5.000m hoch waren, galt es zu überwinden.
Antike Berichte über die Seidenstraße
Älteste Berichte über die Handelswege nach China, die erst später den Namen „Seidenstraße“ erhielten, stammen aus der griechisch-römischen Antike. Den Verlauf der Nordroute, die nördlich des Tarimbeckens (das entspricht ungefähr der Taklamakan-Wüste) verlief, hat Herodot um 430 v. Chr. detailliert beschrieben, wobei er die Stationen der Route mit den Namen der dort ansässigen Völker kennzeichnete.
Nach seiner Beschreibung verlief die Nordroute von der Mündung des Don zunächst nach Norden, ehe sie dann nach Osten abbog zu dem Gebiet der Parther und von dort weiter über einen Karawanenpfad nördlich des Tianshan, der in der westlichen chinesischen Provinz Gansu endete.
Eine ähnlich zusammenhängende Beschreibung der Südroute ist nicht erhalten. Alle Routen der Seidenstraße sind das Ergebnis einer sich über mehrere Jahrhunderte erstreckenden Entwicklung.
Frühe Zeugnisse
In den Mogao-Grotten bei Dunhuang haben Forscher Anfang des 20. Jahrhunderts Tausende von alten chinesischen Schriften gefunden. Diese geben nicht nur frühe buddhistische Lehren sondern auch Berichte vom Handel entlang der Seidenstraße wider.
Ein interessanter Fund, der 1908 von dem Franzosen Paul Pelliot gemacht wurde, war ein Blatt einer Thorarolle in Hebräisch. Diese wird auf das 8. Jahrhundert datiert.
In einer anderen Höhle in Khotan wurde ein Brief in Hebräisch gefunden, der gleichfalls ins 8. Jahrhundert datiert wird.
Beide Dokumente sind beschrieben in „Mandarins, Jews and Missionaries“ von Michael Pollak, Philadelphia 1980.
Der lukrative Handel mit Seide
Es wurde gehandelt mit allem, was die Strapazen einigermaßen sinnvoll erscheinen ließ: Gold, Silber, seltene und kostbare Gewürze. Ab dem 2. Jh. n. Chr. kam die Seide hinzu.
Die Römer waren so begeistert von den leuchtendbunten Seidenstoffen, dass sie irgendwann sogar für bestimmte Bevölkerungsschichten das Tragen von Seide verboten, da der Seidenhandel für ein Abfließen des Staatsvermögens sorgte (Das erinnert mich an die Opiumkriege, über die ich im 2. Teil über die Juden in China berichte).
Benjamin von Tuleda und sein Bericht
Benjamin von Tuleda, ein Jude aus Spanien, reiste im 12. Jahrhundert durch den Orient bis nach Persien. Er beschreibt detailreich das Leben der Juden in Konstantinopel und Bagdad.
Danach folgen in seinem Tagebuch Berichte über Persien, China und Ceylon. Diese klingen allerdings so fantastisch, dass angezweifelt wird, ob Benjamin selbst bis nach China kam. (Quelle: Jewish Virtual Library)
„Thence to cross over to the land of Zin (China) is a voyage of forty days. Zin is in the uttermost East, and some say that there is the Sea of Nikpa (Ning-po?), where the star Orion predominates and stormy winds prevail[174].“ Zitat aus dem Reisebericht von Benjamin von Tuleda.
Besondere Herausforderungen im fremden Land
Was macht einen Juden aus?
Jüdische, armenische und syrische Zwischenhändler dominierten den Handel über den Landweg. Das wirft die Frage auf, was ist das Besondere der jüdischen Händler? Wie gelang es ihnen, unterwegs an ihrem Glauben festzuhalten?
Was macht einen Juden aus? Es gibt einige sehr traditionsreiche Essensvorschriften, die sicherlich unterwegs kaum einzuhalten waren. Auf Schweinefleisch konnte leicht verzichtet werden, aber koscheres Essen? Sabbat feiern?
Wenn sich ein jüdischer Händler in China niederlassen wollte, so musste er sich mühsam sein religiöses Umfeld selbst gestalten. Manche ließen nach einer Zeit der Akklimatisierung ihre Familien nachkommen. So bildeten sich in den Orten entlang der Handelswege kleine Gemeinschaften, die manchmal nur aus ein oder zwei Familien bestanden.
Die meisten Händler aber kehrten entweder nach einiger Zeit zurück oder sie heirateten eine einheimische Frau. Das ergab eine weitere Herausforderung für die jüdischen Kaufleute. Denn aus Tradition wurde die Religion immer von den Müttern auf die Kinder übertragen. Chinesische Mütter konnten dieser Aufgabe verständlicherweise nicht nachkommen. Auch das trug nicht gerade dazu bei, dass sich die jüdische Religion in China ausbreitete.
Um eine Gemeinde zu gründen, wurden zudem zehn jüdische Männer benötigt. Erst wenn diese zusammen sind, kann eine Synagoge gebaut werden und ein Gottesdienst gehalten werden.
Im 11. und 12. Jahrhundert kam es schließlich doch zur Bildung einer größeren jüdischen Gemeinschaft in Kaifeng, das damals die Hauptstadt der Nördlichen Song-Dynastie war.
Übrigens: Die Entfernung von Jerusalem nach Kaifeng beträgt 7.157 Kilometer Luftlinie!
Juden im alten Kaifeng
Während der Nördlichen Song-Dynastie (960 – 1126 n. Chr.) war Kaifeng Hauptstadt des Reiches. Kaifeng war eine Metropole damals mit etlichen Hundertausend Einwohnern. Manche sagen sogar, dass es mehr als eine Million waren. Die Stadt war von einer stattlichen Stadtmauer umgeben. Der Kaiserpalast lag im Zentrum.
Die jüdischen Händler in Kaifeng waren wohlhabende und angesehene Kaufleute. Sie hatten die gleichen Rechte wie die Chinesen. Es war selbstverständlich, dass sie nach ihren Sitten und Bräuchen leben konnten.
1163 kauften sie sich ein Grundstück im Zentrum der Stadt und erhielten die Genehmigung, dort eine Synagoge zu bauen. Man kann also davon ausgehen, dass sie schon vorher dort siedelten.
Während der mongolische Yuan-Dynastie (1279 – 1368) erlebten sie einen weiteren Aufschwung. Mitglieder der Kaifenger jüdischen Gemeinde wurden kaiserliche Beamte oder dienten sogar in der Armee. 1279 rekonstruierte und vergrößerte die Gemeinde mit besonderer offizieller Erlaubnis die Synagoge.
Es gab zu dieser Zeit kleine jüdische Gemeinden in Ningxia, Ningbo und Yangzhou, aber die Kaifenger Gemeinde mit 500 Familien und über 4.000 Menschen war das religiöse Zentrum des Judentums. Das ging in den nächsten Jahrhunderten gut. Die Synagoge, die wie andere chinesische Tempel den einen oder anderen Brand überstand, wurde immer wieder renoviert.
Mit der zunehmenden Abschottung Chinas vom Rest der Welt im 14. und 15. Jahrhundert rissen auch die Verbindungen zur jüdischen Heimat ab. Es fehlte der spirituelle Nachschub. Trotzdem hielt man weiter an den alten Traditionen fest.
Chinesische Familiennamen für die Juden
In der Ming-Zeit (1368 – 1644) erhielten die Juden von Kaifeng durch einen kaiserlichen Erlass chinesische Familiennamen:
Ai (Adam), Shi (Stein), Gao, Jin (Gold), Li (Levi), Zhang, Zhao
Man sollte aber nicht meinen, dass nun jeder Chinese mit dem Namen Li jüdische Vorfahren hat.
Matteo Ricci trifft Kaifenger Juden
Der berühmte Jesuit Matteo Ricci, der im 17. Jahrhundert am Pekinger Kaiserhof lebte, traf 1605 auf den Juden Ai Tian aus Kaifeng. In seinem Bericht De Christiana expeditione apud Sinas schildert Ricci seine Begegnung voller Verwunderung. Ai Tian war voller erstaunlicher Nachrichten über eine blühende jüdische Gemeinschaft und ihre prächtige Synagoge.
Interessanterweise beschreibt Ricci das Aussehen des Kaifeng Juden als sehr anders als die Chinesen. Historiker schließen daraus, dass damals die völlige Assimilierung der Juden noch nicht vollendet war.
Dass es sich wirklich um eine jüdische Gemeinde handelte, ergaben spätere Nachforschungen durch Jesuiten, die in den dort vorhandenen Heiligen Büchern den bekannten Pentateuch erkannten.
Nach Matteo Riccis Eindrücken befand sich die jüdische Gemeinde in Kaifeng damals bereits im Niedergang. Er äußerte die Befürchtung, dass sie Muslime oder Heiden werden könnten. Quelle: Wikipedia
Niedergang der Kaifenger Gemeinde
1642 geschah das eigentlich Unvorstellbare. Es kam zu Unruhen. Die kaiserliche Armee belagerte Kaifeng, wo sich Rebellen festgesetzt hatten. Die Stadt schien uneinnehmbar. Schließlich griff man zu einem verzweifelten Mittel: Man leitete die Wasser des Gelben Flusses in die Stadt. Mehrere Hundertausend Menschen ertranken in den Fluten.
Es war das Ende der Stadt. Obwohl der Kangxi-Kaiser der neuen Qing-Dynastie den Wiederaufbau befahl, konnte sich Kaifeng nicht mehr von der Katastrophe erholen.
Auch die jüdische Gemeinde erreichte nie wieder ihren vorherigen Wohlstand. Die Überlebenden bauten trotzdem eine neue Synagoge und restaurierten ihre alten Schriften.
Anfang des 18. Jahrhunderts berichtete der Jesuit Gonzani von einer kleinen, aber blühenden jüdischen Gemeinde in Kaifeng, die den Sabbat und die jüdischen Feste achtete und ihre Söhne von klein auf die hebräische Schrift und Sprache erlernen ließ.
Aber die äußeren Bedingungen wurden immer schwieriger. 1725 verbannte der Kaiser alle christlichen Missionare aus China. Die jüdische Gemeinde in Kaifeng verlor dadurch einen letzten Zugang zu Informationen aus dem Ausland und war mehr isoliert als je zuvor.
Die Überschwemmungen durch den Gelben Fluss blieben eine ständige Bedrohung für Kaifeng. Als es 1860 wieder zu der Zerstörung der Synagoge durch die Fluten kam, wurde sie nicht wieder aufgebaut.
Die Kaifeng Juden heute
Sicherlich führte der Mangel an jüdischen Frauen dazu, dass die Ehe mit einer Chinesin üblich wurde. Schließlich kam es zu einer weitgehenden Assimilation, so dass heute die jüdischen Bewohner Kaifengs nicht mehr von den Chinesen zu unterscheiden sind.
Darüber hinaus wurde es zunehmend schwierig, jüdische Traditionen und Regeln aufrecht zu erhalten. Denn üblicherweise wurden diese von den Müttern auf die Kinder weitergegeben.
Trotzdem erhielten sich einige Traditionen: z.B. dass man kein Schweinefleisch aß. Qu Yinan, eine junge chinesische Frau aus Kaifeng, erzählt 2015, dass ihre Familie kein Schweinefleisch oder auch keine Muscheln aß. Der Großvater habe immer eine Kopfbedeckung getragen.
Heute glaubt man, dass es noch ungefähr 1000 Nachfahren der Kaifenger Juden gibt. Doch die Zahl ist umstritten. Die meisten leben nicht mehr nach jüdischen Regeln.
Es gibt Chinesen, die kein Schweinefleisch essen und die dies auf ihre jüdischen Wurzeln zurück führen. Das rückt sie in die Nähe der muslimischen Minderheit der Hui. Diese sind eine große und offiziell anerkannte nationale Minderheit in China. Nun möchten auch die Juden als Minderheit anerkannt werden, was aber wegen der geringen Mitgliederzahl und ihrer Vielfalt kaum durchsetzbar ist.
Junge Kaifenger entdecken heute ihre Wurzel neu. Daraus entsteht der Wunsch vieler, nach Israel zu reisen. Wenn sie einigermaßen überzeugend nachweisen können, dass sie jüdische Vorfahren haben, können sie als Jude anerkannt werden und ggf. die israelische Staatsangehörigkeit erhalten. Das ist aber mangels überzeugender Nachweise recht schwierig.
Es heißt, dass Kaifeng die jüdische Vergangenheit als einen Pluspunkt für den Tourismus sieht. Schwierig. Heute findet man kaum noch Spuren der jüdischen Gemeinde. Es gibt keine Synagoge mehr in Kaifeng.
Die Vertreter der Stadt Kaifeng auf der ITB 2016 wussten nichts von Juden in ihrer Stadt, als ich danach fragte.
Update September 2016
Neue Nachrichten aus Kaifeng zeichnen ein eher düsteres Bild der Situation. Zunehmend stehen die Kaifenger Juden unter Beobachtung, letzte Spuren der jüdischen Vergangenheit werden eliminiert. mehr
Links
- Das Jewish Refugee Museum in Shanghai
- Juden in China (2) – Die Bagdad-Juden
- Juden in China (3) – Das 20. Jahrhundert
- Matteo Ricci in Peking
Die Seidenstraße – Geschichte und Geschichten
- Kaffee in China – eine erstaunliche Entwicklung - 6. Oktober 2024
- Der Orient: Länder der Seidenstraße - 29. September 2024
- Shanghai Pass für ganz China! - 22. September 2024
Das ist sehr interessant! Danke!
Danke für den äusserst interessanten Beitrag. Low, Chiang Mai
Echt interessant!
Nun, in dem beschriebenen Teil meines Vortrags geht es nicht um Flucht sondern um eine friedliche Assimilierung der Juden in China. Da finde ich es jetzt schwer, wie du den Zusammenhang mit den Juden in Shanghai herstellst. Auf diese werde ich erst im 2. Teil eingehen. Außerdem: Flucht ist nicht auf Juden beschränkt. Gerade jetzt, wo viele Menschen nach Europa fliehen, nehmen wir Deutschen überwiegend eine sehr positive Haltung ein.
Hallo Ulrike, vielen Dank für Deine reichhaltigen und soliden Informationen. Es ist gut, sich die historischen Fakten bewußt zu halten. Nach dem Besuch des jüdischen Museums in Shanghai vor ein paar Wochen ist mir die Präsenz des Themas wieder drastisch vor Augen geführt worden, denn die Dokumente zum Leben der Kinder der Geflohenen betreffen immerhin auch noch meine Generation! Es ist für einen Deutschen, finde ich, oft schwierig, sich im Ausland dem Thema der Flucht der Juden, jüdischem Leben in der Fremde überhaupt zu nähern, denn irgendwie sind zumindest im 20. Jahrhundert die Deutschen stets negativ involviert.