30 Jahre Tiananmen – ein sehr persönlicher Bericht

Tiananmen 1989 und meine Erfahrungen

1989: Ich plante meine dritte Reise nach China. Das Reich der Mitte war mein liebstes Hobby geworden und ich sog alles in mir auf, was ich über China in Erfahrung bringen konnte.

Dann, im April 1989, erste Berichte von einer Demokratie-Bewegung in Peking. Proteste der Studenten an der Peking-Universität. Ich hielt den Atem an. Was lief da ab? Junge Menschen fordern Demokratie und Freiheit. In China, einer kommunistischen Diktatur?! Ich war gleich sehr skeptisch. Das konnte meiner Meinung nach nicht gut gehen.

Die Anfänge

April/Mai 1989: Morgens stellte ich nun voll banger Erwartungen die Nachrichten an. Die Proteste steigerten sich immer mehr, Hungerstreik, Tausende Menschen, die sich auf dem Tiananmen-Platz versammelten. Gegen Korruption, für Meinungsfreiheit, für Demokratie. Die Überzeugung der Regierung: Diese Proteste sind illegal.

Jeden Tag eilte ich von der Arbeit nach Hause, um zu sehen, wie der aktuelle Stand war. Die Proteste blieben friedlich. Soldaten waren zu sehen, am Anfang noch ohne Waffen. Wie lange würde das gut gehen? Wie lange würden die Proteste friedlich bleiben?

Doch es gab jeden Tag eine Steigerung. Je länger die Regierung nicht eingriff, desto sicherer fühlten sich die Demonstrierenden. Die jungen Menschen, die sich auf dem Tiananmen versammelten, formulierten ihre Forderungen, erhielten Unterstützung aus der Bevölkerung. Bange erwartete ich die Eskalation.

Tag für Tag wunderte ich mich mehr, dass die Regierung nicht eingriff. Die Proteste verbreiteten sich über das ganze Land. Sitzblockaden, dann Hungerstreik. Und immer noch griff die Regierung nicht ein.

Essen ist für Chinesen etwas außerordentlich wichtiges. Man hatte schon so viel Hunger erlebt. Und nun das: Junge Menschen, die ihren Wunsch nach Freiheit und Demokratie über das wichtigste Bedürfnis des Menschen stellten, über das Essen! Das wirkte beeindruckend auf die Pekinger, die teilweise mit Sorgen auf die Studenten guckten, sie unterstützten mit Essen und Wasser. Sie bewunderten die große Entschlossenheit der Studenten.

Ein Dialog fand nicht wirklich statt. Aber irgendwann konnte die Regierung die Proteste nicht mehr ignorieren. Der Ausnahmezustand wurde verhängt. Statt vorsichtiger Annäherung verhärteten sich die Fronten. Jeden Abend schaltete ich beim Nachhausekommen als erstes den Fernseher an. Ich wunderte mich, dass es immer noch „ruhig“  auf dem Tiananmen Platz blieb. Noch verhielten sich die Soldaten friedlich. Sie sollten für Ordnung sorgen, aber nicht schießen.

Das konnte nicht mehr lange gut gehen! Das wusste ich. Mittlerweile würde der „Gesichtsverlust“ der Regierung zu groß sein, wenn sie in irgendeiner Form auf die Forderungen eingehen würden.

Immer martialischer wurden die Bilder: Straßensperren, bewaffnete Soldaten, Truppen rückten näher an den Platz des Himmlischen Friedens ran. Ich glaubte nicht mehr an eine friedliche Lösung. Mein Herz blutete.

04. Juni 1989 Tiananmen Platz

Mit Entsetzen sah ich am 04.06.1989 die Panzer, sah ich die schrecklichen Bilder, die wie ein Krieg aussahen. Überall in China wurden die Demonstrationen gewaltsam mit Schüssen und Panzern niedergeschlagen. Mehr als 10.000 Menschen sollen damals getötet worden sein. Die chinesische Regierung spielt bis heute die Vorfälle und die Anzahl der Toten hinunter.

Anmerkung Juni 2019: Bei der momentanen umfangreichen Berichterstattung in den deutschen Medien über den 4. Juni fällt mir auf, dass „nur noch“ von mehreren Hundert Toten die Rede ist. In China selbst wird der 4. Juni ignoriert. Nur in Hongkong kann ein Gedenken statt finden. Dass das auch nicht ganz unproblematisch ist, zeigt die Meldung, dass ein Aktivist von damals gerade nicht nach Hongkong reisen durfte.

Und ich damals? Ich verschob erstmal meine Pläne, nach China zu reisen, und fuhr stattdessen nach Thailand. Lange fragte ich mich, ob man in dieses undemokratische Reich der Mitte noch reisen dürfe. Doch ich war neugierig, wollte sehen, wie sich China weiterentwickelte. Mit Deng Xiaoping’s Öffnung zum Westen setzte eine positive wirtschaftliche Entwicklung ein. Der zunehmende Wohlstand beruhigte und befriedete die Massen.

Als ich 1991 zu meiner großen Asienreise aufbrach, war es für mich klar, dass ich auch nach China reisen wollte. Das Land wollte ich intensiv und auch abseits der Touristenpfade erkunden. Ich traf auf ein Volk, das sich mit Begeisterung dem Konsum hingab, das stolz war auf das Erreichte.

1993 Die große Enttäuschung

1993 verbrachte ich am Beijing Language Institute, um Chinesisch zu lernen. Diese Zeit bot viele Begegnungen mit chinesischen Studenten. Ich bin im Grunde ein zutiefst unpolitischer Mensch, wollte nicht über die chinesische Politik diskutieren. Doch manchmal ergaben sich solche Diskussionen von ganz alleine. Dann, wenn man einen Brief von daheim erhielt, der offensichtlich geöffnet worden war. Oder, wenn man gemerkt hatte, dass jemand bei Telefonaten mithörte. Dann, wenn bei kritischen Bemerkungen der Blick an die Zimmerdecke ging: „Big Brother hört zu!“

Die chinesischen Studenten waren vorsichtig und redeten nicht gerne über Politik mit den neugierigen Westlern. Dann kam der Abend, als ein junger Chinese mir und meiner australischen Zimmergenossin erzählte, dass er damals 1989 auf dem Tiananmen unter den Demonstranten gewesen sei.

Im Laufe des Gesprächs erfuhr ich, dass es ihm dabei gar nicht so sehr um Demokratie und freie Meinungsäußerung gegangen war, sondern um die Freiheit, sich etwas leisten zu können, sich ein Auto kaufen zu können, reisen zu können. Also eigentlich ganz unpolitische Ziele. Man sei unzufrieden gewesen, dass sich vor allem wirtschaftlich nicht viel bewegte, sagte er.

Demokratie wurde (wird) in China nicht so verstanden, dass alle an den Entscheidungsprozessen der Regierung teilnehmen, sondern dass die Regierung die Wünsche der Bevölkerung anhört und sich darum kümmert, dass es den Menschen gut geht.

Ich war enttäuscht von der materialistischen Einstellung, die den Wunsch nach Wohlstand über die persönliche, politische Freiheit stellte. Das lag sicherlich daran, dass ich den chinesischen Demokratiebegriff damals nicht verstanden hatte. Dies ist mir tatsächlich jetzt erst aufgegangen, dank der aktuellen Berichterstattung (2019).

Und heute?

Ich bin nicht sehr politisch, hab ich ja schon gesagt. Und in China sind die Menschen, glaube ich, so wie wir im Westen: Die meisten sind zufrieden, wenn es ihnen wirtschaftlich gut geht. Auch die freie Meinungsäußerung ist in China, wenn auch immer noch eingeschränkt, möglich. Viele haben Geld, Zeit und Freiheit, um zu reisen.

Die Armutsrate hat sich von 80% in den 1980er Jahren auf weniger als 20% reduziert. Die Regierung geht mehr oder weniger erfolgreich gegen Korruption vor. Ein Ziel ist immer noch, die Armut zu bekämpfen und die Lebensumstände der Menschen zu verbessern. Ob die Methoden dazu immer optimal sind, sei dahingestellt. Ob die Maßnahmen auch den Wünschen der Menschen entsprechen, ist manchmal zweifelhaft.

Liao Yiwu

Am 29.05.2019 stellte Liao Yiwu sein neuestes Buch in der Körberstiftung Hamburg vor. Der chinesische Schriftsteller gehörte 1989 zu den Demonstranten vom Tiananmen.

Ich zitiere aus der Pressemitteilung der Körberstiftung:

»Wer innerlich frei ist, ist der natürliche Feind jedes diktatorischen Regimes« – mit starken Worten richtete sich der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Liao Yiwu gestern Abend bei der Körber-Stiftung ans Publikum. Liao, der in diesem Jahr die »Rede zum Exil« hielt, hat in China für seine Arbeit mehrere Jahre im Gefängnis gesessen, ist gefoltert worden. Seit 2011 lebt er in Deutschland im Exil und in Sicherheit – »die ständige Angst ist gewichen«. In seiner Rede beschrieb er eindrücklich, warum sein Blick trotzdem auf die alte Heimat gerichtet bleibt: Den Einsatz für inhaftierte Freunde, Kollegen, Aktivisten in China versteht er gerade im Exil als seine Pflicht.

Der Handelskrieg Chinas mit den USA sei längst dabei, die Erinnerung an viele politisch Verfolgte in China zu verwischen, beklagte Liao. »Die Abgeschmacktheit und Grausamkeit der Welt hat keinen Bedarf mehr an Helden, die für die Demokratisierung ihres Vaterlandes ins Gefängnis gehen, ganz gleich, ob es sich um eine unwichtige Ameise handelt oder um einen Nobelpreisträger – ich habe das verstanden, habe verstanden, dass ich, obwohl ich eigentlich schon genug darüber geschrieben habe, weiter schreiben muss.« Am 22. Mai ist im Fischer Verlag Liaos neuestes Buch erschienen: »Herr Wang, der Mann, der vor den Panzern stand: Texte aus der chinesischen Wirklichkeit.« Die Textsammlung widmet sich dem Massaker am Tian‘anmen-Platz vor 30 Jahren.

Ich war fasziniert von der ruhigen Ausstrahlung des Mannes. Er sprach auf Chinesisch. Ich hatte Kopfhörer bekommen, um auch die deutsche Übersetzung hören zu können. Doch zu meiner eigenen Überraschung verstand ich mehr als erwartet. Meistens schaltete ich die Übersetzung aus, um mich ganz der Sprache hingeben zu können. Liao Yiwu trug auch Gedichte und kurze meditative Musik vor. Chinesische Gedichte muss man auf Chinesisch hören, um die Schönheit der Sprache erfassen zu können!

Es war ein sehr eindrucksvoller Abend, in dessen Anschluss ich mich noch mit einigen erfahrenen China-Kennern bei einem Glas Wein unterhalten konnte.

Zum Schluss

Ich habe lange überlegt, ob ich diesen Artikel schreiben soll. Doch er gehört zu dem, was in mir steckt und einfach raus muss. Ich betone noch einmal: Ich bin nur gemäßigt politisch. Eine Demokratie wie im Westen halte ich für unchinesisch und nicht wirklich förderlich. Mehr Pressefreiheit und freie Meinungsäußerung wären angebracht. Aber da haben wir im Westen ja auch so unsere Schwierigkeiten mit.

Es wäre wünschenswert, wenn sich auch die VR China ganz offiziell mit den Ereignissen am Tiananmen Platz auseinander setzen würden.

Ich freue mich, dass ich in den letzten mehr als 30 Jahren erleben durfte, wie China zunehmend zu Wohlstand und Frieden gelangt ist. Ich hoffe, dass das Land sich nun auch mehr um Umweltschutz und Nachhaltigkeit kümmern kann.

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Ulrike

4 Gedanken zu „30 Jahre Tiananmen – ein sehr persönlicher Bericht“

  1. Hallo Ina,
    danke für Deine lieben Worte. Ja, China fehlt uns sehr. Es hat sich in den letzten Jahren viel geändert. Ich bin neugierig da drauf. Hoffen wir, dass wir bald wieder nach China reisen können. LG Ulrike

  2. Hallo Ulrike ,
    Ich war 1993 das erste mal in China. Liebe auf den ersten Blick . Danach , ich bin ebenso kein besonders politischer Mensch , das Land nicht mehr losgelassen . Ich hatte das große Glück von 2014-2019 in Shanghai zu leben und chinesisch zu lernen. Ich leide und liebe jeden Tag mit den Menschen dort . Ich vermisse China sehr. Danke für Deinen sehr lesenswerten Bericht . 现在伊哪

  3. Liebe Ulrike,

    danke für diesen Bericht deiner Erlebnisse zu diesem schwierigen Thema.

    Falls du es nicht weißt: In der ZDF Mediathek haben sie unkommentiertes Bildmaterial von damals veröffentlicht. Da du chinesisch verstehst, könnte das interessant für dich sein.

    Viele Grüße aus Suzhou sendet Dir
    Christoph

  4. Hallo Ulrike,

    Ich glaube, daß dir dieser Artikel zu den Tiananmen Unruhen vor 30 Jahren nicht leicht gefallen ist,
    umso mehr schätze ich diesen Bericht mit deiner persönliche Ansicht darüber.

    Eine Aufarbeitung der damaligen Geschehnisse von der chinesischen Regierung ist sicher nicht erwartbar,
    da freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit unterdrückt und stark kontrolliert werden. Leider!!!

    Gestern sah ich auf Arte TV eine 2-teiligen Bericht „1989 Platz des Himmlischen Friedens“
    über die ganze Vorgeschichte und den Ablauf des Tiananmen-Massakers.
    Nach meiner Meinung ein sehr gute Dokumentation der damaligen Geschehnisse.

    Unter arte und
    1989, Platz des Himmlischen Friedens (1/2)
    1989, Platz des Himmlischen Friedens (2/2)
    findet man diese Doku.

    Viele liebe Grüße!
    Ecki

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