Die Große Freiheit und das vergessene Chinesenviertel

Ich habe mich auf die Spuren der Chinesen in Hamburg begeben. Auf dem Weg zur Schmuckstraße, dem einstigen Zentrum chinesischen Lebens in St. Pauli, stieß ich auf eine schöne katholische Kirche: St. Joseph. Unmittelbar an Hamburgs sündige Meile die Große Freiheit anschließend.

Der Heilige Joseph umgeben von Travestiekünstlern und Tabledance, mit Blick auf die verwahrloste Schmuckstraße. Die unschönen Häuser dort zeichnen sich vor allem durch zahllose hässliche Schmierereien aus. Deprimierend.

Grosse Freiheit
Blick auf die Große Freiheit vom Beatles Platz

Beides, katholische Kirche und Chinatown, kann es nur hier geben, denn bis hierher reichte einst das Stadtgebiet von Altona.

Hamburg und Altona – ein Gegensatz der Freiheit

Als ich vor 15 Jahren nach Hamburg kam, habe ich mich viel mit der Geschichte der Stadt beschäftigt. Schnell entstand in mir der Eindruck, dass Fremdenfeindlichkeit schon seit Jahrhunderten Tradition hat. Das Stadttor im Wappen scheint nicht ohne Grund geschlossen zu sein. Die Schmuckstraße – hier könnte heute Hamburgs Chinatown sein.

Ich suchte nach Gegenbeweisen und stieß immer wieder auf Geschichten, die meinen Eindruck verstärkten. Handel und Seefahrt waren willkommen. Da war der Kontakt mit fremden Menschen möglich. Aber wenn es darum ging, dass sich Ausländer in Hamburg niederließen, war das nur mit großen Einschränkungen möglich.

Dazu gab es entsprechende Gesetze und Regeln. Das ging so weit, dass man beim großen Brand von Hamburg 1842 kein Löschwasser aus einem Haus in der Altstadt nutzen wollte oder konnte, weil das Haus einem Engländer gehörte. (Quelle: Museum für Hamburgische Geschichte)

Geschichten von Freiheit und Handel

Wer sich also in Hamburg niederlassen wollte, zog nach Altona. Dort gab es die „große Freiheit“, Religions- und Gewerbefreiheit. Ja, die Straße lag einst in Altona, was bis 1937  eine selbständige Stadt war. Erst seit der Zusammenlegung der Städte gehört dieses Viertel zum Hamburger Stadtteil St. Pauli.

Grosse Freiheit altes Haus

Erst 1664 erhielt Altona Stadtrechte. Es gehörte lange zu Holstein und stand damit unter dänischem Recht. Immer wieder kam es zwischen Hamburg und Altona zu Rivalitäten und Auseinandersetzungen.

1591 brach ein Grenzkrieg aus, der erst 1740 durch einen Vergleich endete. Ebenso akzeptierte Hamburg Altonas Stadtprivileg von 1664 erst 1692 (Kopenhagener Rezess).

Die religiöse Toleranz hat in Altona eine längere Tradition als in Hamburg. Der protestantische Landesherr Graf Ernst von Schauenburg und Holstein-Pinneberg, der von 1601 bis 1622 regierte, förderte Altona durch großzügige Privilegienverleihung.

Bereits 1601 erhielten die aus den südlichen Niederlanden geflohenen Reformierten und Mennoniten das Privileg der freien Religionsausübung. 1658 bekam die katholische Gemeinde das Privileg der Glaubensfreiheit. Auch andere Religionsgemeinschaften konnten hier frei leben, u.a. Juden und Hugenotten.

Die Große Freiheit und die Beatles

Hier hat alles angefangen. Am 17. August 1960 standen die Beatles zum ersten Mal auf einer Hamburger Bühne, im Indra. Da waren sie noch zu fünft: Pete Best, George Harrison, John Lennon, Paul McCartney und Stuart Sutcliffe.

Beatles Platz

Am Beginn der Großen Freiheit erinnert heute der Beatles Platz an die Jungs aus Liverpool.

Viele Clubs sind mit der Geschichte der Beatles verbunden. Doch keiner ist so berühmt wie der Star-Club, Große Freiheit 39. Nur ein Gedenkstein im Hinterhof erinnert heute noch an die Existenz des Star-Clubs. Zur Eröffnung am 13. April 1962 spielten die Beatles. Bis er Silvester 1969 geschlossen wurde, machte er sich in der Szene durch spektakuläre Konzerte großer Künstler wie Little Richard, Jimi Hendrix oder The Everly Brothers einen Namen. 1983 brannte das Gebäude ab.

Heute: Sex und Toleranz

Grosse Freiheit

Heute steht die „Große Freiheit“ immer noch für Freiheit und Toleranz. Musikclubs und Bars aller Richtungen drängen sich auf nur 350 Meter Länge. Drag Queen Olivia Jones ist allgegenwärtig und hat in der Straße verschiedene Lokale eröffnet: die Olivia Jones Bar, Olivias Show Club und Olivias Wilde Jungs.

Nur wenig erinnert an die Pracht der Gebäude vor dem Krieg.

Tipp: Kieztouren von Olivia Jones
„Unsere Travestie-Stars aus Olivias Show Club bzw. der Olivia Jones Bar lotsen Sie spitzzüngig und zielsicher quer durch den Rotlicht-Dschungel – vorbei an schweren Jungs und leichten Mädchen sowie Frauen, die nicht unbedingt das sind, was sie vorgeben. Getreu dem alten Motto: Ob Mann, ob Frau, wer weiß es genau? Ob Sie am Ende schlauer sind, wissen wir auch nicht – aber dafür garantiert gut unterhalten und bestens auf Alleingänge im Nachtleben St. Paulis vorbereitet!“

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Große Freiheit am Abend (c) Cubus

St. Joseph und die Religionsfreiheit

Wenn man die wenigen Meter von der Reeperbahn zum Ende der Großen Freiheit kommt, lässt man das bunte Treiben der Nachtclubs hinter sich und steht vor der Barockfassade der katholischen Kirche St. Joseph.

St. Joseph
Der Heilige Joseph an der barocken Fassade

Auch St. Joseph ist ein Zeugnis für die Religionsfreiheit in Altona. Die katholische Gemeinde Altona wurde bereits 1594 gegründet und ist damit die älteste katholische Gemeinde in Norddeutschland nach der Reformation. Das Recht, katholische Gottesdienste zu feiern, gab es im streng lutherischen Hamburg nicht, doch Altona gehörte damals noch zum Herzogtum Holstein.

Die erste katholische Kirche an dieser Stelle wurde 1660 errichtet und bei einem Brand 1713 zerstört. Bis 1721 wurde die Kirche mit üppiger Barockausstattung erbaut und dem Heiligen Joseph geweiht. Baumeister war der Österreicher Melchior Tatz, der sich beim Bau an italienischen Vorbildern orientierte.

St. Joseph Kirche Altäre

Die Kirche als Ruhepunkt

Von der Kirche aus dem 18. Jahrhundert ist heute nur noch die Fassade erhalten. Der Innenraum wurde nach den Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg neu gestaltet. Eine Besonderheit ist der Bilderzyklus „Die zehn Gebote“, den der berühmte Hamburger Udo Lindenberg geschaffen hat.

Als sich die Große Freiheit zur Vergnügungsmeile entwickelte und sich die Prostitution rund um die Reeperbahn verbreitete, litt auch die katholische Gemeinde darunter. Nichts wünschte man sich mehr, als die Kirche in eine „saubere“ Umgebung umzusiedeln. Doch dazu kam es nicht.

So bildet St. Joseph heute einen Ruhepunkt mitten im Trubel. Die Kirche ist außerdem Zentrum der polnischen katholischen Mission Hamburg. 

Das Beinhaus

St. Joseph verfügt über etwas für Norddeutschland Einzigartiges: Ein Beinhaus. Einst war die Gruft unter der Kirche Bestattungsort Altonaer Katholiken, die bis ins 17. Jahrhundert über keinen eigenen Friedhof verfügten. Der Gruftraum wurde mehrfach verwüstet, zuletzt in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Heute befindet sich hier ein „Beinhaus“, das bei Kirchenführungen als Teil der Hamburger Museumslandschaft besichtigt werden kann.

Schmuckstraße – beinahe Chinatown

Schmuckstrasse
Blick auf St. Joseph von der Schmuckstraße aus

Die kurze Schmuckstraße geht auf Höhe der St. Josephs Kirche von der Großen Freiheit ab.

Im 19. Jahrhundert fanden viele Chinesen ihren Weg nach Hamburg bzw. Altona, wo sich vor allem ab 1890 viele chinesische Migranten und Seeleute niederließen.

Diese stammten in der Regel aus den Hafenstädten Guangzhou (Kanton) in der Provinz Guangdong und Ningbo in Zhejiang und wurden von der Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt-Actien-Gesellschaft (HAPAG) und dem Norddeutschen Lloyd (NDL) in Hongkong und Shanghai vor allem als Heizer oder Trimmer eingesetzt. Es handelte sich dabei um Tätigkeiten, die auf den großen Schiffen schon allein wegen der Tiefe des Maschinenraums und der dortigen Hitzeentwicklung als die schwersten und belastendsten galten.

Die Ansiedlung der so fremden und exotischen Menschen wurde immer sehr argwöhnisch betrachtet. Es waren ja überwiegend Männer, die auch gerne die nahen Angebote der Reeperbahn nutzten.

Club´s der Chinesen

Einige Chinesen betrieben selbst Clubs, z. B. das Ballhaus Cheong Shing. Auch von Opium-Häusern war die Rede.

Schmuckstraße 1930
„St. Pauli’s China hat noch keinem Gast ein Leid angetan, Ruhe, Friede und ein ewiges Lächeln ist sein Gesicht. Ob es aber auch seine Wahrheit ist, kann niemand sagen. Haus bei Haus in der Schmuckstraße ist von der gelben Rasse bewohnt, jedes Kellerloch hat neben oder über dem Eingang seine seltsamen Schriftzeichen. Die Fenster sind dicht verhängt über schmale Lichtritzen huschen Schatten, kein Laut dringt nach außen. Alles trägt den Schleier eines großen Geheimnisses. […] Ob sie wirklich dem Opium frönen oder der zweiten großen Nationalleidenschaft, dem Glücksspiel, nachgehen, keiner vermag es zu sagen.“ – Ludwig Jürgens: Chinesenviertel, 1930 – Wikipedia

1944 wurde das Chinesenviertel durch die Nationalsozialisten mit Massenverhaftungen und Internierungen während einer sogenannten Chinesenaktion aufgelöst.

Stolperstein für Woo Lie Kien
WOO LIE KIEN * 1885 Schmuckstraße 7 (Hamburg-Mitte, St. Pauli) HIER WOHNTE WOO LIE KIEN
JG. 1885
VERHAFTET JUNI 1944
GEFÄNGNIS FUHLSBÜTTEL
VON GESTAPO MISSHANDELT
TOT 23.11.1944

Zur faszinierenden Geschichte des Woo Lie Kien.

Sein Leben in Stichworten:
Geboren in Kaiping bei Guangzhou gelangte er Als Heizer auf einem Dampfschiff nach Hamburg. Dort lebte er ab 1926. Ab 1936 übernahm er eine Kneipe in der Schmuckstraße 9, die sehr beliebt bei den Chinesen war. 1938 wurde ihm Devisenschmuggel vorgeworfen, was sich nicht beweisen ließ. 1944 verstärkte die Gestapo ihre Aktionen gegen Chinesen. Woo wurde schließlich verhaftet und nach Fuhlsbüttel gebracht. Dort wurde er misshandelt und starb im November 1944.

Heute erinnert außer diesem Stolperstein und einer unscheinbaren Plakette nichts mehr an die Chinesen in der Schmuckstraße. Die Nachkriegsfassaden sind schmucklos und mit Graffitis beschmiert. Die Straße ist bekannt als Hamburgs Zentrum für transsexuelle Prostituierte.

Viele Chinesen aus St. Pauli kamen ab 1943 in das Arbeitserziehungslager (AEL) Wilhelmsburg.

Im AEL sollten den Häftlingen jeglicher Widerstandswille gebrochen werden. Dafür sollten die Bedingungen sehr hart sein, was angeblich durch die befristete Haftzeit möglich sein sollte. Mindestens 182 Menschen überlebten die Haftzeit in Wilhelmsburg jedoch nicht. Diejenigen, die überlebten, kamen schwer gezeichnet in die Betriebe zurück, wo sie dem Rest der Belegschaft als Abschreckung dienen sollten.

Anfahrt

Am einfachsten erreicht man die Große Freiheit mit der S-Bahn (S1, S3) vom Hauptbahnhof. Station Reeperbahn.

Reeperbahn SBahn-Station

Die Station Reeperbahn ist ein trüber Einstieg in Hamburg buntestes Viertel. Anthrazitfarbene Wände wirken dunkel und deprimierend.

Um einen interessanten Spaziergang vollständig zu machen, schlage ich folgende Route vor: Große Freiheit mit Beatles Platz – St. Joseph – Reeperbahn – Davidwache – Wachsfigurenkabinett Panoptikum – St.-Pauli-Theater – Schmidt Theater und Schmidts Tivoli – Operettenhaus

Mit der U-Bahn kann man dann von der Station St. Pauli wieder zum Hauptbahnhof zurück fahren.

Interessant ist die S-Bahn-Strecke Hauptbahnhof – Reeperbahn, denn man kann einen Zwischenstopp an den Landungsbrücken einlegen.

Ob Du in Ruhe die Sehenswürdigkeiten am Tag genießen willst oder ob Du Dich abends in die Glitzerwelt eines der vielfältigsten Vergnügungsviertel in Deutschland stürzen möchtest, überlasse ich Dir!

Links

Schmuckstrasse
Bei der Schmuckstraße gibt es einen schmalen Grünstreifen.
Ulrike
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4 Gedanken zu „Die Große Freiheit und das vergessene Chinesenviertel“

  1. Ich komme „nur“ aus Hannover und hab schon meine Schwierigkeiten mit den alteingesessenen Hamburgern, Wenn man sich etwas intensiver mit der Hamburgischen Geschichte beschäftigt, tun sich schnell Abgründe auf. Aber jeder liebt halt seine Heimat, ist ja normal.
    LG
    Ulrike

  2. Fremdenfeindlichkeit in Hamburg? Man eckt manchmal schon an, wenn man erkennbar aus Süddeutschland kommt 😉
    Aber ich liebe diese Stadt! Ich habe selbst als Kind dort gewohnt und mir geht immer wieder das Herz auf, wenn ich sie besuche.
    LG
    Sabiene

  3. Danke für diesen sehr feinen Post. Ich habe ihn mit großem Interesse und viel Freude gelesen und dabei viel Neues und Wissenswertes über Hamburg erfahren.
    Liebe Grüße!

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