Zuletzt aktualisiert vor 3 Monaten
Ein lauter Ruf, Unruhe verbreitet sich wie eine Welle über die wartende Menge. Ich habe in meiner Eigenschaft als Bahnhofsmissionsmitarbeiter gerade einen Blinden zu der U-Bahn-Station am Hamburger Hauptbahnhof gebracht. Nun schaue ich zur Rolltreppe, woher die Rufe ertönen.
Eine ältere Frau ist gestürzt, auf der Rolltreppe. Ein Alptraum! Die Rolltreppe fährt unerschütterlich weiter nach oben. Die Frau rutscht immer wieder nach unten, kommt nicht auf die Beine. Zwei junge Männer eilen ihr zur Hilfe. Doch auch ihnen entgleitet sie. Die Rolltreppe fährt stur nach oben.
Ich bin ziemlich weit weg, viel zu weit, denke ich, als ich auch schon loslaufe. Denn die Menschen, die näher dran sind, stehen erschrocken da und rühren sich nicht. Manche schauen in eine andere Richtung. Warum zieht keiner die Notbremse?
Ich habe keine Zeit zum Nachdenken, laufe direkt zur Rolltreppe. Meine blaue Weste von der Bahnhofsmission verleiht mir eine gewisse Authorität. Die Menschen weichen mir reflexartig aus.
Dann habe ich die Rolltreppe erreicht! Ein Griff zur Notbremse, die Rolltreppe kommt zum Stillstand. Erleichtertes Seufzen in der Menge. Ich eile zu der Frau, die sich nun mit Hilfe der jungen Männer endlich aufrappeln kann.
Ich frage sie, ob sie sich verletzt habe. Nein, sie ist anscheinend ohne größere Blessuren davon gekommen. Doch sie steht sichtlich unter Schock und ist froh, als wir wieder auf festem Boden stehen.
„Wer hat die Notbremse gezogen?“ Zwei Uniformierte von der Hochbahnwache stehen plötzlich vor uns. Sie erfassen schnell den Ernst der Lage, bieten alle mögliche Hilfen für die Gestürzte. Wasser, Kaffee, ein Stuhl in der Wache. Auch ein Rettungswagen könne gerufen werden. Wasser und Stuhl werden gerne angenommen.
Ich bleibe bei ihr. Sie könnte sich auch in der Bahnhofsmission erholen. Doch sie hat sich schnell wieder beruhigt. Sie möchte jetzt nur noch zu ihrem Zug. Natürlich begleite ich sie dahin. Die Wachleute sind auch erleichtert und lassen uns ziehen.
Wie? Du hast die Notbremse gezogen?
Abends telefoniere ich mit einer Freundin und erzähle von dem aufregenden Erlebnis. „Was? Du hast die Notbremse gezogen?!“, ruft sie ins Telefon. Entsetzen und ein leichter Vorwurf schwingen in dem Satz mit. Sowas macht man – nicht.
Ich antworte konsterniert, dass die Notbremse genau für solche Fälle da sei. Wenn nicht da, wann dann?
Die Notbremse in öffentlichen Verkehrsmitteln
Der HVV schreibt zu seinen Notbremsen:
Die Notbremse ist ebenso wie der Notrufknopf im Türbereich angebracht. Wird die Notbremse betätigt, fährt die U-Bahn noch weiter bis zur nächsten Haltestelle. Aus gutem Grund, denn an der Haltestelle kann Hilfe viel schneller erfolgen als direkt auf der Strecke. Unser Fahrpersonal meldet sich und wird nach dem Halten sofort zu Ihnen kommen. Gut zu wissen: Bei Stillstand des Zuges dient die Notbremse auch zur Notentriegelung.
HVV über Sicherheit
Die deutsche Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung (EBO) schreibt in § 23 Absatz 3 vor: „Fahrzeuge, in denen Personen befördert werden, müssen leicht sichtbare und erreichbare Notbremsgriffe haben, durch die eine Notbremsung eingeleitet werden kann.
In dem Sinne ist anscheinend auch eine Rolltreppe ein „Fahrzeug“.
Denkbare Notfälle
Die Notbremse darf man nur ziehen, wenn Gefahr „für Leib und Leben“ besteht.
„Missbrauch strafbar“: Dieser Satz steht in jedem Zug unter den Notbremsen geschrieben. Was aber ist in diesem Fall ein Missbrauch? Und in welcher Situation muss ich die Notbremse ziehen?
Ein Brand ist so ein Notfall. Oder, wenn ein Fahrgast in der geschlossenen Tür festklemmt und beim erneuten Anfahren mitgeschleift wird. Auch eine drohende Entgleisung kann das Ziehen der Notbremse notwendig machen.
Ein Überfall oder Bedrohung könnte ich mir auch noch denken. Dabei ist aber zu überlegen, ob der plötzliche Stopp die Situation nicht doch verschlimmert. Es gibt in Zügen und auf Bahnsteigen Notrufanlagen, die man im Notfall nutzen kann.
Wenn ein Fahrgast gesundheitliche Probleme hat, sollte man besser den Notruf benutzen. Denn der sofortige Halt des Zuges könnte verhindern, dass ein Rettungswagen den notleidenden Menschen rechtzeitig erreicht.
Es ist eben auch eine Frage der Abwägung. Bei der gestürzten Frau auf der Rolltreppe war gut zu erkennen, dass der sofortige Stillstand die Notlage beenden würde. Deshalb war das Ziehen der Notbremse notwendig und sinnvoll.
Übrigens finde ich es höchst interessant, dass, wenn ich nach möglichen Notfällen google, die das Ziehen der Notbremse rechtfertigen, kaum eine konkrete Antwort finde, sondern meistens eine lange Liste, was bei Missbrauch passiert.
Der Info-Knopf
Wie Ihr seht, gibt es an den Notrufsäulen (in Hamburg) noch einen weiteren Knopf, den Info-Knopf. Wozu der da ist, durfte ich im August 2024 erleben.
Ich hatte meinen Rucksack in einer Bahn in der U-Bahn-Station Horner Rennbahn liegen gelassen. Die Situation war etwas hektisch und so dachte ich erst wieder an ihn, als ich schon fast am Hauptbahnhof war. Noch mal zurückfahren, hielt ich für unergiebig, da der Zug bestimmt schon abgefahren war.
Ich ging also zum HVV-Büro im Bahnhof. Das ist aber nur für die S-Bahn zuständig. Ich wurde also an das HVV-Büro im Untergeschoss verwiesen. Aber auch der gelangweilte Mitarbeiter dort konnte mir nicht helfen und schickte mich auf den Bahnsteig zur Notrufsäule.
Dort drückte ich dann auf Info und hatte sofort Kontakt mit einem freundlichen Mann, der nach einer Lösung für mein Problem suchte. Aber: kein Rucksack! Ich solle später noch mal anrufen und schließlich beim Fundbüro fragen.
Naja, es war nichts wirklich Wichtiges in dem Rucksack. Aber ich hatte zweimal die Bekanntschaft mit dem Info-Knopf gemacht und werde beim nächsten Mal gleich dort anrufen. Falls der Rucksack sich noch anfindet, werde ich es hier schreiben.
Was heißt Notbremse auf Chinesisch?
紧急刹车 • jǐnjí dringend + eilig = Not • shāchē bremsen + Fahrzeug = Bremse > Notbremse
Hast Du schon mal die Notbremse gezogen? Erzähl mir davon in einem Kommentar!
Links
- U-Bahn-fahren ist langweilig
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- Sommerstress am Hamburger Hauptbahnhof
- Was tun bei Katastrophen?
Ursprünglich veröffentlicht 2021.
- Die Taklamakan-Wüste, geheimnisvoll und abenteuerlich - 1. Dezember 2024
- Deutsches Zollmuseum Hamburg - 26. November 2024
- China Visum – ein Rückblick - 22. November 2024
Ja, es war abzusehen, dass die Frau nicht mehr auf die Füße kam. Mich wundert immmer noch, warum sonst niemand die Bremse gezogen hat. Da waren so viele, die näher dran waren als ich…
Ich hätte auch die Notbremse gezogen. Denn die Dame hätte sich bei einer weiterhin fahrenden Rolltreppe schlimm verletzen können. Und nicht nur sie. Gut gemacht!
Ja, das ist nicht immer ganz einfach zu entscheiden, ob der Notfall groß genug ist.
In der Situation hätte ich auch die Notbremse gezogen — hoffe ich.