Gastartikel von Heide Marie Voigt
Eile und Weile, Reise auf der Neuen Seidenstraße
Im Mai/ Juni 2019 reiste Heide Marie Voigt als alte Frau allein mit dem Zug von der Bremer Partnerstadt Dalian im Osten am Gelben Meer bis Khorgos an der Grenze von Kasachstan. Sie berichtet von der großen Freundlichkeit der Chinesen – auch von Videoüberwachung und Begegnungen mit der Polizei – also nicht einseitig, wie unsere Medien häufig, sondern konkret.
Anliegen der Künstlerin ist es, Klischees durch konkrete Erfahrung zu ersetzen.
Was können wir wissen – nach der umfassenden Kontaktkontrolle wegen Corona?
Wie wird die Zukunft sein – dort – und hier bei uns?
Das Dorf
Wang ist in einem Dorf aufgewachsen. Ihr Vater verdiente Geld in einer anderen Stadt und kam nur zum Frühlingsfest nachhause. Die Mutter bekam jedes Jahr ein Kind, vier Töchter. Wang ist die Älteste, sie ist 1971 geboren – wie mein Sohn. Sie hat einen Namen. Die Schwestern heißen Er, San und Si, also Zwei, Drei und Vier. Die letzten Jahre lebte der Vater in der Stadt. Er ist 1992 gestorben.
Am Montag fährt Wangs Mann uns zu dem Dorf. Fast, wir müssen noch ein paar Schritte laufen. Wang hat hier gewohnt, bis sie 24 Jahre alt war und geheiratet hat. Den Tisch, an dem wir essen, gab es schon damals. Die Stühle sind ganz alt.
Ich zeichne und schenke Wangs Mutter das Bild. Da will sie auch zeichnen! Sie hat schon so lange nicht mehr gemalt! Sie macht ein Blumenbild für mich. Wenn Hong mich in Bremen besucht, kaufen wir Pinsel und Farben für sie! Die Mutter hatte eine Nähmaschine und war als Schneiderin bekannt.
Früher hatte die Familie drei Zimmer für die Mutter und vier kleine Kinder und den taubstummen Bruder des Vaters. Und eine kleine Küche. Das Gebäude war aus Lehm gebaut und „sehr gefährlich“. Die Mutter stellte ein Holz gegen die Wand, damit sie nicht einfiel über Nacht. Jetzt ist das Haus aus Ziegeln. Wir essen im Wohnzimmer, das ist erst zwei Jahre alt.
Die Armenhilfe
Ich schenke auch dem taubstummen Onkel eine Zeichnung. Er hat immer bei der Familie gewohnt, aber jetzt hat er ein eigenes Schlafzimmer. Die Regierung verpflichtet „jeden Arbeiter“, einen von den ganz Armen zu betreuen: Er besucht ihn, schreibt alle Lebensdaten zusammen und reicht sie bei der Regierung ein, weil der vielleicht nicht schreiben kann oder sich nicht auskennt.
Die Regierung gibt Geld: Jeder Arme soll einen eigenen Wohnraum und ausreichend Lebensmittel haben. So hat der Onkel ein eigenes Zimmer bekommen und das Haus ist aus Ziegeln gebaut worden.
Manchmal freunden sich Betreuer und Betreuter an, die ‚Arbeiter‘ verschenken selbst, was gebraucht wird, aber das ist freiwillig. Staatlich organisiert ist, dass jeder, der Arbeit hat, verantwortlich ist für einen Armen. Hongs Onkel verehrt Xi Jinping deshalb sehr. Dieses Programm gilt für ganz China. Auch in dem Dorf Thang Jia Zhung in der Provinz Shanxi habe ich davon gehört.
Die Felder der Familie
Die Familie hatte Felder auf der anderen Seite des Flusses. Jetzt ist das Land für wenig Geld verkauft und bebaut. 1989 war ein Hungerjahr. Ungeziefer hatte die Ernte vernichtet. Heuschrecken? Das hat sich nicht wiederholt.
Früher gingen die Kinder hinter dem Dorf am Berghang spielen. Sie brachten ihre Schale Reis mit und probierten aus der Schale der anderen, das gehörte dazu, und dachten sich schöne Spiele aus.
„Wir hatten ein schönes Leben“, sagt Wang, „viel schöner als Kinder jetzt. Die haben ein Handy und sehen fern.“ Nicht alle Kinder konnten zur Schule gehen, aber Wangs Vater verdiente Geld in einer Fabrik.
Heute haben Wangs Mutter und ihr Onkel mit viel Mühe Terrassenfelder am Berg angelegt. Wir gehen den steilen Weg hinauf und sehen sie an. Da wachsen Mais und Erdnüsse.
Am schwersten ist das Bewässern. Im Hof gibt es eine Wasserleitung. Im Schuppen, wo das Holz sehr ordentlich aufgeschichtet ist, stehen große, mit Wasser gefüllte Eimer als Klo. Es stinkt nicht.
Auf dem Berg gibt es Esskastanien und einen Ölbaum. Die Mutter erntet seine Früchte und trocknet die Kerne, die sind sehr kostbar. Aber sie schenkt ihren Kindern das Öl als Medizin gegen Hochblutdruck. Unter den Bäumen zeigt Wang mir auch Gräber. Zweimal im Jahr besuchen die Menschen ihre Ahnen.
Heide Marie Voigt, Eile und Weile
Anmerkungen von Ulrike
Ich danke Heide Marie Voigt für den schönen Artikel! Sie hat gewagt, mit knapp 80 Jahren eine abenteuerliche Reise quer durch China zu unternehmen, die sie entlang der neuen Seidenstraße große Städte und kleine Dörfer entdecken ließ und sie mit den unterschiedlichsten Kulturen in Kontakt brachte.
Sie schreibt, dass sie als „alte Frau“ gereist ist. Mit der Formulierung habe ich mich anfangs etwas schwer getan. Es schien mir zu direkt zu sein, zu unnötig. Doch dann wurde mir bewusst, dass Heide Marie Voigt etwas im Alter getan hat, das viel Respekt und Bewunderung von uns verlangt.
Darüber hinaus ist in China ein alter Mensch sehr geachtet. Dadurch sind ihr manchmal sicher Einblicke gelungen, die jüngeren verwehrt sind.
Links
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