Gabriele Hecker, eine besondere Frau und Künstlerin

Heute will ich von einer ganz speziellen Frau erzählen, von Gabriele Hecker, meiner Mutter. Sie besaß viele Facetten und war nicht immer einfach. Ich habe sie geliebt und gehasst, bewundert und verachtet – je nach Alter und Verstehen.

Zuletzt aber überwogen Bewunderung und Liebe. Sie war mein Fels in der Brandung, Gesprächspartnerin ohne Schnörkel und interessierte Reisegefährtin.

Gabiele Hecker
Gabriele Hecker mit 18. War sie nicht wunderschön?

Hier möchte ich überwiegend auf ihre Reiselust eingehen.

Jugend, Krieg und Flucht

Gabriele Hecker wurde 1924 in Schlesien als eines von 6 Kindern geboren. 5 Brüder! In den Augen ihrer Mutter war das ein übler Fehler, dass sie ein Mädchen war. Nur ihr Vater, dessen Liebling sie war, stand immer auf ihrer Seite. Ich erwähne den Geburtsnamen nicht, weil es sehr unschöne Vorfälle gab, die auch uns dieser Familie entfremdeten.

Wir sind im Besitz eines wahren Schatzes: In den 1980er Jahren hat eine Bekannte meine Mutter in den Mittelpunkt einer Lebensgeschichte gestellt, die sie als Arbeit für ihr Studium brauchte. Daher weiß ich viel über ihr Leben vor ihrer Heirat.

Lebensgeschichte Gabriele Hecker.

Gabriele entzog sich ihren Brüdern früh, indem sie mit 17 Jahren an die Lehrerinnenbildungsanstalt in Züls ging. 1943 (mitten im Krieg) machte sie ihr Fachabi und die 1. Lehrerprüfung.

Mir ist von ihren Erzählungen aus dieser Zeit besonders in Erinnerung geblieben, dass sie völlig unmusikalisch war. Damals war das Spielen eines Musikinstruments unbedingte Voraussetzung für das Bestehen der Lehrerprüfung. Sie ließ sich nicht unterkriegen, lernte mit Mühe Geige spielen und konnte so Lehrerin werden.

Sie trat mit 20 ihre erste Stelle als Volksschullehrerin in einer kleinen Schule in Ostpreußen an, weit weg von Zuhause. Als der Krieg näher rückte, floh sie im Frühjahr 1945 zurück nach Breslau. Ihre Mutter ließ sich anfangs nicht überzeugen, mit den drei kleinen Brüdern weiter nach Westen zu flüchten.

Da ergriff sie die nächste Gelegenheit, mit einem Treck zu Fuß in die Tschechoslowakei zu gehen. Ihr Vater und die zwei älteren Brüder waren Soldaten an der Ostfront und später in russischer Gefangenschaft.

Meine Mutter konnte spannend und manchmal sogar lustig von ihrer Flucht erzählen. Eine Geschichte hat mich sehr beeindruckt. Als ihr bei einer Kontrolle das einzige Gepäckstück, eine Aktentasche mit wichtigen Dokumenten und ein paar Fotos, weggenommen wurde, sprang sie der Tasche hinterher und hielt sie fest. Die Soldaten waren beeindruckt von ihrer Verwegenheit und ließen ihr das bisschen, das sie noch hatte.

Frühe Zeichnung
Eine Zeichnung aus 1945

Ein anderes Mal fragte ich sie, was sie denn während der Flucht gemacht hatte, wenn sie ihre Tage hatte. „Die Tage bekommst Du nicht unter diesen Umständen.“, antwortete sie. Ein äußeres Zeichen der Traumata, über die sie nicht sprach.

Schließlich erreichte sie Hannover, wo sie erstmal bei einer Freundin unterkam.

Nach dem Krieg

Nach dem Krieg fand sie nach einigem Hin und Her eine Stelle als Lehrerin in der Nähe von Aachen und machte die 2. Lehrerprüfung.

Ihre Mutter war nun auch in den Westen gelangt. Sie hätte es am liebsten gesehen, wenn meine Mutter bei ihr geblieben wäre, um sie und ihre Brüder, die heil aus dem Krieg zurückgekommen waren, zu bedienen. Das war nichts für meine Mutter!

Gabriele Hecker, Mutter

Jetzt kam es immer wieder zu Streit und Zerwürfnissen mit ihrer Mutter, vor allem dann, als sie als Katholikin einen Protestanten heiratete! Zur Hochzeit im Dom von Aachen 1954 war die Familie meiner Mutter nicht eingeladen, was ihr immer übel genommen wurde.

Übrigens wurde vergessen, einen Fotografen zu bestellen. Also gab es keine Fotos von meiner schönen Mutter im Brautkleid.

Wie damals üblich hörte meine Mutter auf zu arbeiten, als ich, die älteste Tochter, geboren wurde. Das war 1955.

„Mutti, habe ich als Baby viel geweint?“, fragte ich einmal. „Nein, das ging gar nicht, denn in dem Haus, in dem wir damals wohnten, lebten viele Bergleute, die Schichtarbeit leisteten und ihren Schlaf brauchten.“ Also wuchs ich liebevoll gekuschelt und ruhig auf.

Meine Eltern gaben auch trotz kleiner Kinder das Reisen nicht auf. Der Hochzeitsreise mit dem Schiff auf dem Rhein folgten Reisen nach Paris und Holland. Wir zogen nach Dortmund in ein größeres Haus mit Garten. Mutter bekam Entlastung durch Au-pair-Madchen aus Holland und eine Putzfrau.

Meine Mutter in Dänemark

Dann ging es richtig los mit dem Reisen. Als Direktor im Bergbau hatte mein Vater viel Urlaub. Nachdem ein Hotelaufenthalt in Dänemark wegen der lebhaften Kinder gescheitert war, machten wir Ferien im Ferienhaus in Skandinavien. Das waren in erster Linie Erholungs- und Badeferien.

Besonders für meine Mutter waren diese Ferien eine große Herausforderung, denn sie musste weiter kochen und putzen. Natürlich half mein Vater dabei (Das war damals gar nicht selbstverständlich). Anfangs begleitete uns das jeweilige Au-pair-Mädchen. Auch wir Kinder übernahmen kleine Pflichten.

Immer gehörten auch Ausflüge zu Sehenswürdigkeiten und Volksfesten dazu. Manchmal konnte meine Mutter alleine z.B. nach Stockholm oder mein Vater mit einer Gruppe nach Leningrad fahren. Mir kam das ganz normal vor, auch wenn das in den 1960ern ganz und gar nicht üblich war.

1975 kauften meine Eltern ein kleines Haus in Irland. Meine Mutter fand das alles gut und freundete sich schnell mit den Einheimischen an. Aber als mein Vater meinte, dass sie als Rentner im Sommer in Deutschland und im Winter in Irland leben könnten, streikte sie. Monate im regnerischen winterlichen Irland zu verbringen, wenn so gar keine sozialen Kontakte möglich waren, das war nichts für sie.

Cloghane Garten
Irland

Gabriele Hecker, die Künstlerin

Mit dem Umzug in ein altes Haus bei Bückeburg 1967 fing ein neuer Abschnitt in ihrem Leben an. Sie konnte sich nun ihren künstlerischen Ambitionen widmen. Sie fuhr hin und wieder zu einem Workshop und traf mit anderen Malern zusammen.

Ihr Hauptfeld war die Naive Malerei, wobei sie hauptsächlich die idyllischen Orte der Umgebung malte. Aber auch Blumen und Fische waren ein beliebtes Motiv. Jede Gelegenheit nutzte sie, um zu malen.

Ägypten
Gabriele Hecker

Sie stellte aus, nahm an Wettbewerben teil und verkaufte auch das eine oder andere Bild. So hatte sie eigenes Geld zur Verfügung.

Gabriele Hecker, die Porschefahrerin

Auf dem Land brauchte sie ein Auto, um ihre Unabhängigkeit zu behalten. Zuerst benutzte sie einen gebrauchten Karman Ghia, rot mit weissem Dach. Sie war bald in der ganzen Gegend bekannt, wenn sie mit ihrem kleinen Flitzer unterwegs war.

Später hatte sie einen Porsche 911. Dabei war nicht klar, ob nicht vielleicht mein Vater eigentlich das sportliche Auto wollte. Jedenfalls war ich sehr stolz auf sie.

Die Reisegefährtin

Ende der 1970er Jahre fing meine Mutter an, mit ihren Töchtern zu verreisen. So war sie mit meinen Schwestern an der Loire oder in Leningrad. Mit mir fuhr sie u.a. nach Florenz, Rom und Neapel (Pompeji war ein Erlebnis, das uns beide begeisterte. Ich weiss noch, wie sie erschöpft in Pompeji saß, während ich immer noch weiter getrieben wurde.)

Immer dabei waren ihre Aquarell-Farben und Zeichenstifte. Es entstanden Gemälde von exotischen Pflanzen und Landschaften.

Gabriele im Schlafwagen
Mutti im Schlafwagen in Ägypten

Schon vorher war es zu dem denkwürdigen Moment gekommen, als mein Vater zu ihr in vorwurfsvollen Ton sagte: „Du musst nicht immer nur mit Deinen Töchtern verreisen, Du kannst das auch mit mir!“ Damit waren nicht die Ferien im Irland gemeint, die natürlich immer stattfanden. Meine Mutter war zu allem bereit: „Mach Vorschläge!“ war ihre Anwort.

So kam es, dass meine Eltern u. a. auf Kreuzfahrt gingen. Meisten mit kleineren Expeditionsschiffen. In die Arktis, die Antarktis (wo sie von einem Pinguin gebissen wurde) oder rund um Südamerika und in den Pazifik.

Gabriele Hecker und die Sprachen

Mein Mutter konnte mit jedem sprechen. Ob der König von Tonga, der Fischer in Irland oder der alte ägyptische Händler: Sie zeigte Neugier und Interesse an dem Lebensumfeld der Menschen, interessierte sich für die Kinder und anderes. Jeder liebte sie dafür.

Denn sie sprach die Sprachen nicht und gab sich trotzdem Mühe, sie zu verstehen. Zur Not half sie sich mit Zeichen und ihrem freundlichen Lächeln. Von ihr habe ich gelernt, dass ich nicht die Sprache eines Landes können musste, um durchzukommen, sondern auch so ein freundschaftliches Verhältnis mit den Mitmenschen entwickeln konnte.

Sie lernte mit Begeisterung aber mit wenig Erfolg Finnisch. Dadurch weiß ich noch heute einige Wort in dieser Sprache. Z.B. muurahainen = Ameise oder leipuri = Bäcker. Besonders ist mir das unwahrscheinliche Wort für Preiselbeermarmalade in Erinnerung geblieben: Poulukkahillo. Es ist nicht besonders sinnvoll, so etwas zu wissen, aber es erzeugt sofort ein Lächeln, wenn man auf Finnen trifft.

Ganz besonders ist mir eine Begebenheit auf der gemeinsamen Nilkreuzfahrt in Erinnerung geblieben.

Wir saßen zusammen mit drei Australiern an einem Tisch. Mutter unterhielt sich angeregt mit ihnen – auf Englisch. Ich schaltete auf Durchzug und hörte nicht mehr zu, beruhigt, dass sie auch ohne meine Hilfe mit den Australiern kommunizierte.

Bis sie mich wiederholt mit dem Ellbogen anstupste. „Was ist denn?“, fragte ich etwas ungeduldig. „Was haben sie gesagt? Übersetz doch mal!“ Sie hatte kein Wort verstanden, aber immer freundlich genickt!

Zum Schluss

Als ich 1991 zu meiner großen Asienreise aufbrach, sagte sie: „Wenn Du nach drei Monaten merkst, dass das nicht das Richtige war, kannst Du unbesorgt zurückkommen, Dich für ein paar Tage ins Bett legen und Wunden lecken. Ich pflege Dich dann!“ Das zeigte mir, wie sehr sie mich und meine Ängste verstand. Es gab mir Sicherheit.

Abschied in Hannover
Abschied in Hannover 1991

Ich konnte ihr stundenlang von meinen Abenteuern erzählen. Sie hörte mir mit gespannter Aufmerksamkeit zu.

Was könnte ich noch schreiben? Sie war eine großartige Köchin, schneiderte anfangs unsere Kleider. Sie war an vielem interessiert. In erster Linie war sie Hausfrau und doch die emanzipierteste Frau, die ich kenne.

Jetzt ist sie schon mehr als 20 Jahre tot und ich vermisse sie noch immer.

Links zu meinen Reisen mit Gabriele H.

Ulrike

7 Gedanken zu „Gabriele Hecker, eine besondere Frau und Künstlerin“

  1. Liebe Ulrike,
    was für eine spannende Geschichte. Mit dem Buch über ihre Lebensgeschichte hast du wirklich einen großen Schatz. Meine Mama war Jahrgang 1920. Sie hielt die ganze Familie zusammen. Sie war immer fröhlich. Wenn ich die schönen Zeichnungen von deiner Mutter sehe, muss ich an meine denken. Sie hatte einen eigenen Stil zu zeichnen. Auch hat sie lange Briefe geschrieben, wenn wir Kinder in einer Kinderkur bzw. einem Ferienlager waren. Die Briefe waren immer mit kleinen Zeichnungen geschmückt.

    Wenn die Eltern nicht mehr da sind, merkt man, was man versäumt hat zu fragen. Wir haben uns oft nicht getraut. Die Eltern haben den Krieg erlebt und so gut wie nie etwas darüber erzählt. Vieles würde ich heute gerne wissen, aber es ist zu spät.

    Liebe Grüße
    Renate

  2. Das war ja wieder ein sehr spannender Bericht liebe Ulrike. Über eine sehr schöne und interessante Frau. Schade, dass ich sie nicht kennenlernen durfte…

  3. Liebe Ulrike,
    da hast du uns eine interessante Frau vorgestellt.
    Das ist oft ein merkwürdiges Verhältnis zwischen Mutter und Tochter und umgekehrt. Meiner Mutter war ich endlich nahe, als sie alt wurde. Die letzten 15 Jahre ihres Lebens haben wir uns endlich ausgesöhnt.
    Liebe Grüße
    Martina

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