Der unheimliche Typ aus dem Schlafsaal in Kunming

Seltsame Begegnungen im Schlafsaal

In Kunming bekam ich zum ersten Mal unterwegs eine Ahnung davon, dass man nicht immer die allerbilligste Absteige nehmen sollte. Aber ich hatte mich an Schlafsäle gewöhnt und auch einige gute Erfahrungen gemacht (Shanghai). Doch natürlich ist das Schlafen zusammen mit mehreren unbekannten Menschen in einem Raum auch immer mit Unsicherheiten verbunden. Wie sicher sind meine Sachen? Wann kommen die anderen zur Ruhe? Wer hilft mir, wenn ich bedroht oder gar angegriffen werde? In einem Einzelzimmer kann man die Tür hinter sich schließen und hat seine Ruhe.

Der Schlafsaal in Kunming war so ziemlich das schlimmste, das ich unterwegs erlebte. Aber danach stand für mich fest: Nie wieder die billigste Unterkunft! Und nach Möglichkeit keine gemischten Schlafsäle mehr.

Kunming 2011 Ehrentor
Kunming 2011: Leider gibt es keine Fotos von dem Schlafsaal oder dem merkwürdigen Typen

Aus meinem Reisetagebuch:

Oktober 1991: Der Schlafsaal im Kunhu Hotel Kunming

Kunming liegt fast 2000m hoch. Als ich aus dem Zug steige, fegt mir ein kalter Wind entgegen. Ich gehe ins Kunhu-Hotel. Das soll die preiswertesten Schlafsäle in der Stadt haben. Das Bett ist wirklich sehr billig, nur ca. DM 2,- pro Nacht. Aber der Schlafsaal ist entsprechend schrecklich. Da das Laken gebraucht aussieht, packe ich meinen Schlafsack aus, der auch etwas mehr wärmt als die dünne Decke, die auf dem Bett liegt.

Die Leute in meinem Schlafsaal kommen aus der ganzen Welt. Da ist eine Kanadierin im nächsten Bett, ein paar pakistanische Männer, Japaner, Übersee-Chinesen, Amerikaner. Ich fühle mich nicht sehr wohl dabei, mit asiatischen Männern zusammen in einem Zimmer zu schlafen. Die haben sicher andere Ansichten als ich darüber, wie man sich als anständige Frau kleidet. Ich glaube kaum, dass die pakistanischen Jungs meinen, dass Frauen, die im T-Shirt in einem Zimmer mit Männer schlafen, anständig sind.

Der Asiate vom Bett gegenüber

Am meisten aber macht mir der Asiate vom Bett gegenüber Sorgen. Von dem fühle ich mich nicht als Frau bedroht, sondern der erscheint insgesamt etwas seltsam. Soweit ich das sehen kann, hat er nur wenig Gepäck. Seine langen Haare wirken ungepflegt, seine Kleidung abgetragen. Er liegt fast den ganzen Tag auf seinem Bett. Was macht er hier? Es gibt Leute, die erzählen, dass er schon seit Monaten da wohnt. Es ist auch nicht ganz klar, ob er Japaner, Auslandschinese oder sonst was ist. (Anmerkung: Bürger der VR China durften damals nicht mit Westlern zusammen wohnen)

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Das Wetter ist und bleibt kalt und regnerisch in Kunming. Eigentlich will ich sofort mit dem Bus weiter nach Jinghong im Süden Yunnans fahren. Aber dann bekomme ich wieder meine Tage. Ich fühle mich schlapp und elend, habe keine Lust, zwei Tage lang im Bus zu sitzen.

Ich hänge erneut die meiste Zeit rum. Manchmal gehe ich mit Leuten aus dem Schlafsaal zum Essen. Aber ich mag auch nicht viel essen. Und eigentlich mag ich mich auch nicht in diesem schrecklichen Hotel aufhalten, deshalb gehe ich viel spazieren und trinke lieber Kaffee in den Cafes, die sich auf die Backpacker spezialisiert haben.

Die Krähe und das Messer

Dann dreht der merkwürdige Japaner-Chinese aus meinem Schlafsaal durch! Er hat einen großen lebenden Vogel, anscheinend eine Krähe, mit in den Raum gebracht. Das verängstigte Tier ist gefesselt und zappelt und krächzt panisch. Der Mann bedroht es mit einem riesigen Messer und deutet uns, den entsetzten Zuschauern, an, dass er den Vogel schlachten und verspeisen möchte.

Er macht eine große Show daraus, die ihn offensichtlich sehr befriedigt. Mir wird beim Anblick des Messers ganz mulmig. Die pakistanischen Jungs lachen sich kaputt über den Typen. Wir Frauen sind da etwas ängstlicher. Außerdem mag ich mir gar nicht vorstellen, was passiert, wenn er versucht, den Vogel hier im Schlafsaal zu schlachten!

Er reagiert nicht auf unsere Bitten, den Vogel wegzubringen und wenn möglich freizulassen. Ob er uns nicht versteht? Wir holen einen Japaner aus einem der anderen Schlafsäle, der auch etwas Chinesisch spricht. Der kann den Mann überreden, das Messer wegzulegen und den Vogel in seinen Nachtschrank einzusperren. Das ist allenfalls die drittbeste Lösung, aber was soll ich tun?

Die Kanadierin wechselt in einen anderen Schlafsaal, weil sie Angst bekommen hat. Ich fühle mich auch nicht wohl, wenn ich mich in einem Raum mit dem Irren weiß. Obwohl der Japaner mit ihm sprechen konnte, wissen wir immer noch nicht, was für ein Landsmann er ist…

Da ich immer noch meine Tage habe und mich nach Sonne und Erholung sehne, kaufe ich mir kurzentschlossen für den nächsten Tag ein preiswertes Flugticket nach Jinghong in Xishuangbanna. Da soll es ein Hotel geben unter Palmen mit Blick auf den Mekong-Fluss. Das erscheint mir im Moment wie ein Traum.

Aber zunächst muss ich zurück ins Hotel, zurück in den Schlafsaal mit dem Irren. Dort finde ich sein Bett leer, der Vogel scheint verschwunden. Am Abend taucht sein Herrchen wieder auf. Er sagt kein Wort und schneidet sich mit dem Riesenmesser die Fingernägel. Ich bin froh, dass ich morgen abreise. Ganz sicher werde ich in diesem Hotel nicht mehr absteigen!

Nachwort: Warum habe ich überhaupt so oft in Schlafsälen übernachtet? Nun, es war so, dass mir ein begrenztes Budget zur Verfügung stand. Je mehr ich ausgab, desto schneller würde ich nach Deutschland zurückkehren müssen, desto schneller wäre meine Reise beendet. Ich hatte mir ein (in jedem Land anderes) Budget pro Tag zugeteilt. Was ich also an den einen Tagen weniger ausgab, weil ich z.B. in einem billigen Schlafsaal wohnte, konnte ich an anderer Stelle für ein Einzelzimmer ausgeben.

Ich habe kein Problem damit, mein Zimmer mit Männern zu teilen. Wenn die auf Abstand bleiben. In dieser Hinsicht habe ich keine schlechten Erfahrungen gemacht. Ich erinnere mich an das Vier-Bett-Zimmer in Xi’an, wo zwei Betten von zwei unglaublich gut aussehenden Holländern und einem Neuseeländer belegt waren. Die waren alle sehr nett.

Doch ich war immer in Sorge, dass ich mich nachts freistrampelte. Es war sehr heiß, aber ich versuchte, möglichst nicht unbedeckt zu schlafen, auch wenn ich in meinem Schweiß fast davon schwamm. Ach, wahrscheinlich waren es meine eigenen Wunsch-Fantasien, die mich „befürchten“ ließen, dass die Jungs mir zu nahe treten würden. In Kunming hatte ich das Problem nicht. Es war so kalt, dass ich mich nachts automatisch eng in meinen Schlafsack wickelte.

Naja, jedenfalls habe ich nach Kunming nirgendwo mehr für 2,- DM pro Nacht geschlafen.

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Wie alles begann

Ulrike
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5 Gedanken zu „Der unheimliche Typ aus dem Schlafsaal in Kunming“

  1. Es gibt Dinge, die ich niemals machen würde. Dazu gehört mit Mann in einem Raum zu schlafen. Das hat weniger etwas mit Angst zu tun. Ich kann die meisten Männer wirklich nicht riechen.

  2. „Ach, wahrscheinlich waren es meine eigenen Wunsch-Fantasien, die mich „befürchten“ ließen, …“

    Das sollte sich kein Mensch weiblichen Geschlechts einreden. Die Menschen männlichen Geschlechts natürlich auch nicht, aber wir (m.) halten uns eh für so schlau. 😉

    Es handelt sich keineswegs um Wunsch-Fantasien, sondern um eine innere Warnfunktion, die durch das Aufnehmen von Aromastoffen durch die Nase aktiviert wird. Der menschliche Geruchssinn ist zwar sehr fein und kann daraus, die Informationen schließen, die dem Leben dienen. Es wird aber, jedenfalls im westlichen Kulturkreis, nicht (mehr) bewusst wahrgenommen. Entsprechende Reaktionen werden dennoch auf die Gefühle ausgelöst, die sich dann in Emotionen äußern. „Man kann sich riechen (oder auch nicht)“, ist so ein sprachlicher Hinweis, der erhalten geblieben ist, als sich noch intensiver mit der körperlichen Wirklichkeit unseres Seins auseinandergesetzt wurde.

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