Katastrophentourismus – wie geil ist das denn?

Katastrophentourismus scheint im Trend zu liegen. Dabei möchte ich verschiedene Arten des Katastrophentourismus unterscheiden.

Was ist Katastrophentourimus?
Katastrophentourismus ist die Bezeichnung für eine Art des Reisens, die in erster Linie die Schaulust nach einem Katastrophenfall bedient. Sie findet sowohl für organisiert anreisende Gruppen als auch für massenweisen Individualtourismus zu der Katastrophenstelle Anwendung. Eine modernere Verallgemeinerung, die auch Konzentrationslager und Kriegsschauplätze einschließt, ist Dark tourism oder Schwarzer Tourismus. Eine begriffliche Überlappung gibt es auch zum älteren Begriff Schlachtenbummler. (Wikipedia)

Im Nachfolgenden schildere ich meine persönlichen Gefühle und Erlebnisse, ganz subjektiv und auch nur in einer kleinen Auswahl.

Katastrophen und der Katastrophentourismus

Tschernobyl und Fukushima

Pilze, Katastrophentourismus führt auch
nach Tschernobyl, wo u.a. Pilze verstrahlt wurden.

An beiden Orten hat jeweils eine der größten atomaren Katastrophen statt gefunden. 1986 explodierte der Reaktor von Tschernobyl und verseuchte nicht nur das Umland. Radioaktive Wolken zogen bis nach Westdeutschland und luden mittels Regen ihre gefährliche Fracht auch bei uns ab. Ich habe die Katastrophe mit allen Folgen miterlebt. Lange Zeit war es nicht möglich, die verstrahlten Pilze oder auch Obst und Gemüse aus Osteuropa zu essen.

Das war natürlich gar nicht zu vergleichen mit dem Elend der Bewohner von Tschernobyl. Sie wurden umgesiedelt und haben teilweise noch immer, mehr als 30 Jahre danach, mit erhöhten Krebsraten zu kämpfen. Jetzt, 2019, ist es anscheinend sicher genug, nach Tschernobyl zu reisen und sich in den Ruinen und den Wäldern drumrum umzuschauen.

Das Gleiche gilt für Fukushima. Das japanische Kernkraftwerk wurde durch Erdbeben bzw. die darauf folgenden Tsunamis schwer beschädigt. Im Laufe der Katastrophe trat immer mehr Radioaktivität aus. Die Stadt und die Umgebung wurden evakuiert. Auch hier gibt es eine erhöhte Rate an Krebs- und Leukämie-Fällen. Auch hier meint man, dass man den Ort wieder besuchen kann.

Warum?

Warum fährt man nun also als Tourist an solche Orte? Ist es das schaurige Gefühl, überlebt zu haben, wo andere gestorben sind? Ich weiß es nicht. Manche Psychologen sagen, dass die Sensationsgier eine menschliche Eigenschaft ist.

Immer wieder zieht es die Menschen zu den Orten, wo eine Katastrophe stattgefunden hat oder gerade stattfindet. So gibt es jedes Jahr die Menschen, die sich die Überschwemmungen am Rhein anschauen oder aber auch die Gaffer, die es nicht lassen können, einen Unfall zu fotografieren. Manche Medien leben von der Lust des Menschen am Grauenhaften.

Auch die Touranbieter werben mit dem Gruseln. Eine Tour nach Tschernobyl beinhaltet den Besuch verlassener Dörfer und u.a. eines aufgegebenen Kindergartens, in dem noch Spielzeug herum liegt, das die Kinder damals zurücklassen mussten. Wichtig ist auch der Hinweis, dass man ein Strahlenmessgerät mit nehmen soll. So bleibt der Grusel allgegenwärtig.

Pompeji und Co.

Pompeji ist die antike Stadt, die bei einem Ausbruch des Vesuvs 79 n. Chr. verschüttet und völlig zerstört wurde. Viele Menschen starben. Man hat nicht nur die Ruinen der Häuser ausgegraben, sondern auch zahlreiche menschliche Leichname gefunden, die man in Form von Gipsabgüssen konserviert hat.

Nun habe ich, als ich anfing, mir für diesen Artikel über Katastrophentourismus Gedanken zu machen, gedacht, dass ich nicht zu den sensationslüsternden Touristen gehöre, die sich an den Ort solcher schrecklichen Ereignisse begeben. Doch mit Pompeji habt Ihr mich auf frischer Tat erwischt! Natürlich musste ich mir Pompeji schon wegen meiner Leidenschaft für die Archäologie ansehen!

Pompeji Ziel für Katastrophentourismus
Bild von Graham Hobster auf Pixabay

Auf dem Foto ist eine der Hauptstraßen des ausgegrabenen Pompeji zu sehen, im Hintergrund der Vesuv. Es ist schon sehr beeindruckend, durch diese Straßen zu gehen, die Läden und Wohnhäuser rechts und links zu sehen und sich vorzustellen, wie das Leben einst war. Die Gipsabgüsse der Menschen, die bei der Katastrophe ums Leben gekommen sind, kann man im Museum besichtigen.

Ich habe mir damals keine Gedanken über meine Motive gemacht. Pompeji war einfach interessant! Dass ich mich eigentlich dem Katastrophentourismus hingab, hmm. Ach, von dieser Vorstellung trennten mich zwei Jahrtausende!

In Herkulaneum, dem Nachbarort von Pompeji, fand ich die Katastrophe fühlbarer. Dort hatten Lava-Ströme den Ort meterhoch verdeckt. Vieles ist noch nicht ausgegraben. So stand ich immer wieder vor den verschütteten Häusern, vor Wänden aus Lava und fester Asche.

Ich gebe zu, dass mich beim Anblick der Spuren des Unglücks ein gruseliger Schauer ergriff. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich mein Interesse an Pompeji und auch an Herkulaneum nur mit meinem Interesse an Archäologie und Ausgrabungen begründen kann.

Besuch von Gräbern und anderen archäologischen Stätten

Ist der Besuch von Gräbern, Moorleichen und Mumien nicht immer auch ein bisschen mit der Lust am Vergänglichen, am Morbiden und einem Hang zum Gaffen verbunden? Mittlerweile fühle ich mich immer unwohler beim Betrachten von beliebten Museumsausstellungen mit Mumien, Skeletten usw. Sollen die Museen diese „Ausstellungsstücke“, die ja mal lebendige Menschen gewesen sind, überhaupt noch zeigen?

Mumie aus Peru
Mumie aus Peru

Ich erinnere mich an meinen Besuch im Museum für Vorgeschichte in Halle. Ein tolles Museum! Dort sind auch die Skelette einer Familie ausgestellt, die wohl bei einem Überfall vor 4.600 Jahren ermordet wurde.

In den Gräbern sind die Skelette so angeordnet, wie man sie gefunden hat. Mütter sind ihrem Kind zugewandt, manche scheinen sich zu umarmen oder einfach liebevoll in die Augen geblickt zu haben.

Ich habe mich schweigend in den abgedunkelten Raum gesetzt und dieser Toten gedacht, die eine schreckliche Geschichte zu erzählen wussten. Bewusst habe ich mich entschieden, nicht zu fotografieren.

Aber: Muss man diese Toten den neugierigen Blicken der Museumsbesucher preis geben? Ich bin mir immer noch nicht schlüssig. Als Archäologin und auch als Buddhistin weiß ich, dass die Skelette keine Seele mehr enthalten, keine Menschen mehr sind. Und doch ergreifen mich solche Szenen. Ein respektvoller Umgang ist nötig, ein einfaches Zurschaustellen würdelos.

Ich könnte noch viele gruselige Stätten aufzählen, Mumien oder Moorleichen, die ich schon gesehen habe. Mit zunehmenden Alter kommen mir immer häufiger Bedenken, mich mit neugierigen Blicken solchen Ausstellungen zu nähern. Aber nein! Da ist immer noch mein Wunsch, den Ötzi, die Mumie aus dem Eis des Oetztales, mal zu sehen!

Gedenkstätten und Mahnmale

Konzentrationslager

Bei KZ-Lagern und anderen Mahnmalen an die Verbrechen der Nazi-Zeit kann ich allerdings nur dazu aufrufen, so viele wie möglich davon zu besuchen! Niemals darf vergessen werden, was damals geschah!

Das kann ich nicht wirklich mit Katastrophentourismus verbinden. Vielleicht kann man das noch am ehesten mit dem neuen Wort des „Schwarzen Tourismus“ bezeichnen. Ein Begriff, der meiner Meinung nach aber die Formen des Katastrophentourismus verharmlost oder gar verniedlicht.

Ich habe so einige Mahnmale und auch KZs besucht. Besonders beeindruckt hat mich die kleine Ausstellung über die Kinder vom Bullenhuser Damm in Hamburg. Dort sind die wenigen Gegenstände und Fotos ausgestellt, die von 20 Kindern übrig geblieben sind, die am 21.04.1945 in einem Schulkeller ermordet wurden. Vorher hatten sie Schreckliches im KZ Neuengamme durchgemacht. Besonders solche kleinen zarten Ausstellungen berühren mich. Auch die Rosen, die immer noch am Gedenkstein im Garten abgelegt werden. Nein, diese Kinder dürfen nicht vergessen werden!

Foltergefängnis Tuol Sleng

Vor vielen Jahren war ich mal in Phnom Penh und habe dort auch das Tuol Sleng Genozid Museum besucht. Das stand auf dem offiziellen Besichtigungsprogramm. Es ist ein gruseliger Ort. Ganze Wände sind voller Fotos der von den Roten Khmer gefolterten und ermordeten Menschen. In einem Raum ein Berg von Knochen. Folterinstrumente, furchtbar!

Die Ermordeten von Tuol Sleng

Eine zeit lang gehörte ich einer internationalen Gemeinschaft von Reisenden an, die auf einer amerikanischen Plattform ihre Reiseerfahrungen und Erlebnisse veröffentlichte. Dort schrieb ich auch über Phnom Penh und was ich dort gesehen hatte.

Zu meinem Foto von der Bilderwand in Tuol Sleng schrieb eine Amerikanerin, dass man doch solche Dinge nicht zeigen solle, das wäre viel zu schrecklich und würde Kambodscha herabwürdigen. NEIN! Ich habe heftig widersprochen. Es ist wichtig, dass man das nicht einfach so unter neuen schönen Erinnerungen verschüttet!

Das Schicksal der Juden

Immer wieder berichte ich auf meinem Blog über das Schicksal der Juden. Wenn ich etwas entsprechendes erfahre, einen jüdischen Friedhof besuche oder eben in Shanghai das Jewish Refugees Museum, dann sehe ich das nicht als Katastrophen-Tourismus. Mich interessiert die Geschichte der Juden. Ich finde es faszinierend, dass es schon früh Juden in China gegeben hat. Wie schrecklich aber auch, dass es im 3. Reich zum Schluss keinen anderen Ausweg mehr gab als die Flucht nach Shanghai! Was für beeindruckende Schicksale! Welch tapfere Menschen!

All das darf nicht vergessen werden!

Platz des Himmlischen Friedens

Auch wenn es in Peking keine Gedenkstätte zu der Tragödie vom 04.06.1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens gibt, so soll auch das nicht vergessen werden! Natürlich sieht man heute keine Spuren mehr von den Panzern, die über die Demonstranten rollten. Ich habe mich auch lange damit schwer getan, zu berichten, was ich in diesem Zusammenhang erlebt habe. Dieses Jahr – 30 Jahre danach – habe ich es getan. Und damit – hoffentlich – mein eigenes kleines Mahnmal errichtet. 30 Jahre Tiananmen

Katastrophentourismus und ich

Wie viel Katastrophentourismus kann man überhaupt aushalten? Was ist mit der eigenen Ethik und Moral vereinbar?

Katastrophenorte wie Tschernobyl u.ä. interessieren mich einfach nicht. Die Katastrophen waren schrecklich und ich hoffe, dass man entsprechende Konsequenzen daraus gezogen hat. Vielleicht sind Orte wie Tschernobyl auch nicht antik genug, um in meinen Fokus zu geraten. Es gibt noch so viel anderes zu sehen und zu erleben! Da stehen solche Orte ganz unten auf meiner Bucketliste! Andererseits verstehe ich auch, dass man in der Gegend um Tschernobyl mit dem Tourismus etwas Geld und Einkommen erwirtschaften will. Es gibt nicht so viele Alternativen.

Ötzi, alte Moorleichen, jüdische Friedhöfe und Mahnmale zu Krieg und Folter: Das gehört zwar nicht in einen Topf geschmissen. Aber das sind Sachen und Orte, die ich mir interessiert angucke.

Jeder Ort hat im Laufe der Jahrtausende seine eigenen Höhepunkte und auch Katastrophen erlebt. Um die Gegenwart zu verstehen, muss man auch die Vergangenheit kennen. Ich kann nicht immer nur auf die Schönheit, die prachtvollen Bauten, die großartige Natur schauen. Und nur durch den Besuch von Märkten und Dörfern lerne ich ein Land auch nicht kennen.

Um die Welt zu verstehen

Um die Welt zu verstehen, muss ich auch in die dunklen Ecken gucken, mit offenen Augen für Vergangenheit und Gegenwart durch die Welt reisen.

Es gibt Zeiten, es gibt Katastrophen, die einfach nicht vergessen werden dürfen! Immer aber gilt eins: Allem mit Respekt und Würde begegnen!

Blogparade zum Schwarzen Tourismus

Dies ist mein Beitrag zur Blogparade „Schwarzer Tourismus“ vom Blog „Go where your heart tells you to go“. Die Blogparade ist beendet. Ein interessantes Thema, zu dem auch einzelne entsprechende Sehenswürdigkeiten beschrieben werden. Schaut mal rein!

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Ulrike

13 Gedanken zu „Katastrophentourismus – wie geil ist das denn?“

  1. Ich ja eigentlich auch nicht zuerst. Aber es ist doch logisch: Pompeji ist bei einer großen Katastrophe untergegangen. Und die vielen Leichen, die man gefundne und mit Gips ausgegossen hat, sind immer eine große Attraktion.

  2. Pompeji als Katastrophentourismus? Darauf wäre ich gar nicht gekommen.

    Das Thema „dunkler Tourismus“ ist breiter als man manchmal denkt. In San Francisco hinterfragt z.B. kaum jemand einen Besuch auf Alcatraz und in Rom geht man ohne nachzudenken in das Kolosseum.

    Ich finde übrigens einen Besuch in Tschernobyl gerade für Deutsche sinnvoll. Es gab ziemlich viel Panik und Panikmache in Folge von Tschernobyl, gerade in Deutschland. Hier ranken sich bis heute viele Mythen um den größten Nuklearunfall. Vielleicht stößt uns auch deswegen alles was mit Tourismus in Tschernobyl zu tun hat auf.

    Auch ich hatte vor meinem Tschernobyl-Besuch kaum Ahnung von dem Atomunfall. Ich habe ernsthaft geglaubt es hätte Hundertausende Opfer gegeben und Missbildungen usw. Ohne den Besuch hätte ich mich niemals mit meinen Vorurteilen beschäftigt.

  3. Is das Dein ernst? Maschinengewehr schießen in Kambodscha ist ganz sicher auch nicht mein Ding. Was treibt die Leuet, sowas abscheuliches zu tun?
    LG
    Ulrike

  4. „Allem mit Respekt und Würde begegnen!“, in diesem Satz fasst du, liebe Ulrike, alles wesendliche zusammen.

    Ich hatte vor deinem Bericht noch nie von dem Begriff ‚Katastrophen-Tourismus‘ gehört.
    Wenn durch aktives Auseinandersetzen von Katastrophen, z.B. in Gedenkstätten, der eigene Blick geschärft wird, um menschgemachte Katastrophen in Zukunft zu verhindern, dann finde ich das gut.
    Wenn es natürlich nur um die Bilder und die Sensationslust auf Lasten der Opfer geht, verurteile ich das sehr.
    Ein Besuch in Tschernobyl gehört für mich da nicht dazu, sehr wohl aber auf der Gedenkstätte der Killing Fields in Kambodscha mit einem Maschinengewehr zu schießen…

  5. Danke für Deinen Kommentar!
    Um zu sehen, wie die Natur sich durchsetzt, muss ich nur vors Haus treten und an den Straßenrand schauen. Enorm, wie viel da wächst und blüht!

  6. Ich habe mir Tschernobyl angetan. Warum? Es hat mich einfach interessiert. Nicht aus Sensationsgier oder um geile Fotos zu machen. Ich habe mich vor der Reise lange eingelesen. Trotzdem hatte ich kurz vor der Reise noch ein mulmiges Gefühl. Unsicher hatte ich mich jedoch zu keiner Zeit gefühlt. Den Geigerzähler hatte ich am Mann. Radioaktive Strahlung nimmt man heute mehr auf einem Interkontinentalflug nach Amerika auf, als die paar Stunden dort vor Ort. Ich denke, in meinem Beitrag zur Reise geht auch hervor, dass ich Tschernobyl mehr als ein Mahnmal für die Menschheit halte als einen Ort für Sensationstourismus. Und für mich habe ich etwas wichtiges erkannt: Geht die Menschheit, kommt die Natur zurück! Das ist die Gewissheit, warum ich mich immer noch im Naturschutz engagiere.

  7. Ich würde nie auf die Idee kommen nach Tschernobyl oder Fukushima zu fahren, aber vor allem deshalb, weil es mich nicht interessiert. Ich würde solche Reisen aber auch nicht grundsätzlich verurteilen und finde es schwierig den Reisenden grundsätzlich Sensationsgier zu unterstellen (ich weiß, das hast du nicht getan). Außerdem können diese Regionen die Einnahmen aus dem Tourismus sicher gut gebrauchen.

    Liebe Grüße aus Paris
    Feli

  8. Ich bin auch immer wieder fassungslos ob der Dummheit mancher Menschen. Manchmal frage ich mich, ob man heute in dem Moment, an dem man das Handy einschaltet, automatisch das Gehirn ausschaltet. Bei einigen scheint es so zu sein.
    LG
    Ulrike

  9. Vom Katastrophentourismus nach Tschernobyl und Fukushima habe ich neulich erst in einem Buch von Ranga Yogeshwar gelesen, und war danach völlig von den Socken. Anscheinend kennt die Sensationsgier und Dummheit der Menschen in der Tat keine Grenzen.

Ich freue mich auf Deinen Kommentar!