Lotusfüße und die unendlichen Qualen der Frauen

Lotusfüße: Was für eine euphemistische Bezeichnung für das Ergebnis einer grausamen Prozedur! Viele Geschichten schildern das Mysterium um das Ideal der winzigen Füße.

Zierliche Schuhe für die Lotusfüße. Zart bestickt mit Blüten. Gebundene Füße.
Schuhe für die Lotusfüße

Als Lotusfüße bezeichnet man die spitzen und winzigen Füße der Frauen im kaiserlichen China, die durch extremes Einbinden (manchmal bis hin zum Knochenbrechen) zugunsten eines mehr als tausend Jahre lang geltenden Schönheitsideals deformiert wurden. Sie werden auch Lotos-Füße oder Lilienfüße (Chinesisch 纏足 chánzú) genannt.

Den Mädchen wurden bis zum 8. Lebensjahr die Zehen mit Ausnahme des großen Zehs gebrochen. Die gebrochenen Zehen wurden dann unter die Fußsohle gebunden, damit der künstlich verkürzte Fuß auch noch eine möglichst spitze Form annahm.

Lotusfüße – ein altes Schönheitsideal

Das über 1.000 Jahre alte chinesische Schönheitsideal der kleinen Lotusfüße gerät langsam in Vergessenheit. Es stirbt glücklichweise ausl Die letzten Füße wurden noch in den 1930er Jahren in die kleinen Schühchen gezwungen.

Lotusfüße – die Legende

Einst lebte im China des 10. Jahrhunderts die Tänzerin Yao Niang. Sie hatte Füße, die so klein waren, dass die Männer ganz hingerissen von ihrer Schönheit waren. Sie wurde die Konkubine des Königs Li Houzhou (937 – 978), der damals in Kaifeng lebte, der Hauptstadt einer Dynastie, die man die südliche Tang nannte.

Obwohl die Tänzerin ihre Füße eng bandagierte, konnte sie doch tanzen. Li Houzhou baute ihr der Legende nach eine kleine Bühne in Form einer Lotosblüte aus Gold, Edelsteinen und Seide. Auf dieser tanzte sie mit kleinen Schritten und ihren gebundenen Füßen.

Ihre Schönheit und ihre kleinen Füße wurden sehr bewundert. So schaffte sie die Grundlage für eine Mode, die sich weit verbreitete und zu immer enger gebundenen Füßen führte, die euphemistisch als Lotusfüße (bzw. Lotosfüße) bezeichnet werden.

Das chinesische Aschenputtel

In der Tang-Dynastie (618 – 907) wurde von dem chinesischen Gelehrten Duan Chengshi 段成式 (803-863) im heutigen Shandong eine Geschichte aufgeschrieben, die dem Märchen vom Aschenputtel verblüffend ähnelt.

Sie erzählt von einem Mädchen, das misshandelt und verachtet von der Stiefmutter zu einer Schönheit heranwächst.

Die Fee ist in dieser Geschichte ein Fisch, der hilft und sie mit allem ausstattet, was sie braucht, um zu einem Fest zu gehen. Der Fisch ist in China ein bekanntes Symbol für Glück und Reichtum.

Auf dem Fest begeistert sich der König für die unbekannte Schönheit. Doch als sie von ihrer Stiefmutter erkannt wird, flieht sie und verliert ihren Schuh. Der König sucht mit dem Schuh nach ihr. Doch kein Fuß passt in den winzigen Schuh. Bis er endlich das Mädchen trifft.

Die Geschichte macht deutlich, welch einen hohen Stellenwert die kleinen Lotosfüße schon damals in China hatten.

Interessant ist auch, dass manche heutige Literaturwissenschaftler meinen, dass diese Geschichte, die in Europa erst im 16. Jh. aufgeschrieben wurde, das Märchen vom Aschenputtel inspiriert hat. Kulturaustausch über die Seidenstraße?

Zierliche Schuhe aus Seide für die Lotusfüße, sorgfältig bestickt mit hellen Kinderfiguren.
Die Schühchen wurden sorgfältig bestickt

Von der Song-Dynastie (Die „Nördliche“ regierte 960–1126 in Kaifeng, die „Südliche“ Sòng 1126–1279 in Hangzhou) an war es üblich, den kleinen Mädchen die Füße zu binden. Man rechnete sich durch die Lotusfüße bessere Chancen für die Töchter auf eine gute Heirat aus.

Am Anfang war das einfache Füße Binden noch nicht so streng. Doch allmählich steigerte sich das bis dazu, dass manche Frauen zugunsten des Eindrucks winziger Füßchen auf den Zehenspitzen gingen. Nur noch die Schuhe boten den Füßen Halt mit einem versteckten Holzgerüst an den Fersen.

Außerdem galt der Gang der Frauen, die sich wegen der winzigen Füße nur mühsam fortbewegten und dabei angestrengt mit den Hüften wackelten, als sexy.

Natürlich verzichtete man auf dem Land nach Möglichkeit auf das Füßebinden, da nur Frauen mit normal großen und gesunden Füßen in der Lage waren, auf dem Feld und bei der Arbeit zu helfen.

Es gibt sogar seltene Geschichten von Frauen, die mühselig auf den Knien den Acker bearbeiteten, weil sie ihre verkrüppelten Füße nicht schmerzhaft belasten konnten oder wollten.

Während der letzten, der Mandschu-Dynastie Qing, erlies man in China ein Verbot der Lotusfüße. Das setzte sich aber lange Zeit nicht durch.

Li Yu:   Die vollkommene Frau (1671)

Was sind die Übel des zu kleinen Fußes? Wenn sich eine Frau wegen ihrer zu kleinen Füße nur schwer bewegen kann und sich immer an Wänden und Mauern stützen muss, so geht das ja nur sie allein an. Wenn aber die Füße wegen der Bindung der Zehen schmutzig bleiben und die anderen sich die Nase zu kneifen und die Augenbrauen runzeln müssen, so geht das auch die Mitmenschen an.

Und was sind die guten Seiten des kleinen Fußes? Die kleinen Füße sind so schlank, dass man sie beinahe nicht sieht. Je mehr man sie ansieht, desto mehr Rührung überkommt einen: das ist ihr Nutzen bei Tage. Sie sind so zart, als hätten sie keine Knochen, und je mehr man sie liebkost, desto lieber streichelt man sie: das ist ihr Nutzen bei Nacht. …

Der Schöpfer hat doch den Menschen die Füße gegeben, damit sie gehen können. Früher sagte man von einem schönen Mädchen „aus jedem ihrer Schritte wachsen Lotosblumen“, oder „jeder ihrer Schritte ist wie Jade“ und drückte damit aus, dass ihre Füße zwar klein waren, aber dass sie doch laufen konnten. Und zwar war ihr Gang schön, und darum wurden sie so bewundert und geschätzt.

Sind aber die Füße so klein, dass sie nicht damit laufen können, so sind solche Frauen ja genauso wie jemand, dem man die Beine abgehackt hat. Darum darf es also diese Nachteile der zu kleinen Füße nicht geben.

Chinesin beim Schuhe für gebundenen Füße besticken.
Chinesische Dame beim Sticken.

Pearl S. Buck: Ostwind Westwind (1927)

Wie wichtig für viele Frauen die gebundenen Füße waren, welche Ideale sie selbst damit verbanden, liest man sehr gut in dem Roman von Pearl S. Buck, der die Zeit vom Übergang der Kaiserzeit zum modernen China zum Inhalt hat.

Als der neuzeitlich gebildete Gatte von seiner traditionell erzogenen Frau verlangt, dass sie ihre Lotosfüße aufbindet, reagiert die Erzählerin des Buches entsetzt:

Ich jedoch zog die Füße rasch unter den Sessel. Ich war entsetzt über seine Worte. Nicht schön? Immer war ich auf meine winzigen Füße stolz gewesen! Während meiner ganzen Kindheit hatte meine Mutter persönlich das Aufweichen im heißen Wasser und das jeden Tag fester werdende Wickeln des Verbandes beaufsichtigt, und wenn ich vor Schmerz weinte, erinnerte sie mich daran, dass eines Tages mein Gatte die Schönheit dieser Füße preisen werde.

Ich neigte nun den Kopf, um meine Tränen zu verbergen. Ich dachte an alle jene unruhigen Nächte und an die Tage, da ich nicht essen konnte und kein Verlangen hatte zu spielen, an die Stunden, da ich auf der Kante meines Bettes saß und meine armen Füße schwingen ließ, um ihnen die Last des Blutes zu erleichtern.

Und jetzt, nachdem ich das alles erduldet und der Schmerz auch seit einem kurzen Jahr aufgehört hatte, musste ich erfahren, dass mein Gatte sie für hässlich hielt! “Ich kann nicht“, sagte ich mit erstickter Stimme. Ich stand auf und verließ, unfähig, meine Tränen zurückzuhalten, das Zimmer.

Nicht, dass ich mir gar so viel aus meinen Füßen gemacht hätte, aber wenn selbst meine Füße in ihren verführerisch bestickten Schuhen keine Gnade vor seinen Augen fanden, wie konnte ich je hoffen, sein Liebe zu gewinnen?

Pearl S. Buck Ostwind Westwind

Schließlich gibt sie nach und erlaubt ihrem Gatten, die Füße aufzubinden. Das bedeutet einen fast genauso schlimmen Schmerz wie das Binden selbst. Doch auch das ist am Ende überstanden. Sie fängt an, freier zu laufen und dies zu genießen. Damit läutet sie die Annäherung zu ihrem Mann ein, was letztlich zu einer glücklichen Ehe führt.

Leider war das Aufbinden der Füße nicht in jedem Fall erfolgreich. Für viele Frauen kam es zu spät und sie blieben bis an ihr Lebensende auf Gehhilfen und Rollstühle angewiesen. Manche waren sogar auf das Haus oder das Bett beschränkt.

(c) MARKK Unbinding Bodies. Kleine Stiefel für die Lotosfüße und die Schuhe für die ungebundenenFüße der Madschu.
(c) MARKK UnBinding Bodies / Stiefelchen und Schuhe auf Klötzen.

Das Ideal der Lotusfüße

Die ideale, angestrebte Länge eines solchen Lotusfußes war 10 Zentimeter. Doch viele Frauen erreichten dies nicht. Meistens ergab sich nach Abschluss der qualvollen Prozedur eine Länge von 13 bis 15 cm. Das ist immer noch unnatürlich kurz, wenn man bedenkt, dass ein normaler Frauenfuß (meiner zum Beispiel) rund 25 cm misst.

Im 19. Jahrhundert der Qing-Dynastie, der Dynastie der nicht-chinesischen Mandschu-Kaiser, versuchte man vergeblich, den Han-Chinesinnen den Brauch des Füße Bindens zu verbieten. Der gesellschaftliche Druck war einfach zu groß. Die Mandschu stammen von einem sibirischen Nomadenvolk ab und das Füße Binden gehörte nicht zu ihren Traditionen.

Doch die Mandschu-Frauen, für die dies Verbot ganz besonders galt, fanden die kleinen Füße der Han-Frauen so attraktiv, dass sie sich spezielle Schuhe anfertigen ließen. Eine wichtige Motivation war, dass nur so die Chance bestand, einen wohlhabenden Han-Chinesen zu ehelichen.

Die speziellen Mandschu-Schuhe standen auf kleinen zierlichen Klötzen, so dass man die „großen“ Füße der Mandschu-Frau unter den langen Gewändern nicht sehen konnte.

Im Übersee-Museum in Bremen gibt es eine umfangreiche Sammlung an chinesischen Schühchen.

Die letzte Fabrik, die Spezialschuhe für die gebundenen Füße herstellte, schloss 1999.

Schuh mit Erhöhung der Sohle, die die Mandschu-Frauen trugen, um ihre Füße wie die Lotusfüße erscheinen zu lassen.
Schuh einer Mandschu-Dame

Leiden und Perversion

Wie schrecklich die kleinen Mädchen unter der schmerzhaften Prozedur des Füße Bindens leiden mussten, wie sehr dies ihre Kindheit zerstört hat, muss ich wohl nicht noch deutlicher beschreiben. Doch die Leiden hörten damit nicht auf!

Verkrüppelte Füße nach Jahren.
Auf dem Bild ist deutlich zu erkennen, dass der eingebundene Fuß normalerweise keine Entzündungen oder ähnliches entwickelte. War die Prozedur erst einmal abgeschlossen, konnten sich die Frauen fast normal bewegen.

Folgen des Abbindens der Füße waren manchmal das Absterben des Fleisches und Entzündungen. Eingewachsene und entzündete Fußnägel, eitrig infizierte Knochensplitter, verfaulte Haut und abgestorbene Zehen gehörten zu den alltäglichen Qualen der Frauen mit den Lotosfüßen. Manche Mädchen und Frauen starben an Entzündungen und Blutvergiftungen.

In der Regel wurden die Bandagen parfümiert und kunstvoll gestaltete, kleine wunderschön verzierte Spezialschuhe getragen. Bandagen und Schuhe wurden meist auch im Bett anbehalten, um das weitere Wachstum der Füße zu verhindern und Entzündungen und faulige Gerüche zu kaschieren.

Die Schühchen waren auch deshalb so klein, weil in ihnen häufig nur die verkrüppelten Zehen steckten, ähnlich wie beim Spitzentanz neuzeitlicher Ballerinas. Der Schuh gab den Füssen Halt, so konnten die Frauen gehen.

Der Tag der Lilie

Die Vorbereitung auf das Frau-Sein

In diesem beeindruckenden Text über eine fiktive Kinderfrau in China wird die qualvolle Prozedur des Füße Bindens beschrieben.

Die Amah weiß, wie oft sie (die Hausherrin) des Nachts vor Schmerzen aufwacht und ihre Stümpfe sachte massiert werden müssen, damit sie weiterschlafen kann. Sie hat Teile ihrer Lotusfüße schon verloren, das faulende Fleisch wird regelmäßig abgezupft und die Bandagen müssen sehr oft erneuert werden. Ihre gemarterten Füße ruhen auf einer Fußbank unter einer seidenen Decke, die verschwenderisch parfümiert ist, um den Geruch zu überdecken.

Quelle: pressenet.info

Aus dem Buch „Gedanken im Fluss der Zeit: Stolpersteine“ (Band II: 2011-2009)
Sabine Siemsen, Winfried Brumma, Eleonore Radtberger, Ilona E. Schwartz

Weitere drohende Folgen des Füßebindens

Mit dem gebundenen Fuß kamen auch besondere Methoden, die Füße zu pflegen. Die Zehnägel ließen die Frauen regelmäßig schneiden. Dazu mussten die Füßchen entblößt werden. Geschah das nicht oder zu selten, drohten eingewachsene Nägel. Wie schmerzhaft das sein kann, weiß wohl jeder von uns.

Older woman adjusting the bindings on a girl’s foot, 1917–1919, in Shilin, Zhejiang Province, China
Older woman adjusting the bindings on a girl’s foot, 1917–1919, in Shilin, Zhejiang Province, China – MARKK

Nicht zu vernachlässigen ist, dass wichtige Akupunkturpunkte nicht erreichbar waren, sodass man andere finden musste. Fußreflexzonen konnten nicht massiert werden.

Die Attraktivität des mühsamen Gangs

Manche Männer mochten besonders den Geruch der sog. „Stinkefüße“. Der mühsame Gang der verstümmelten Frauen wirkte, als wenn sie aufreizend mit den Hüften wackelten. Es gab einige perverse Möglichkeiten, sich an den verkrüppelten Füßen zu „erfreuen“.

Häufig liest man, dass sich Frauen im alten China erst dann wirklich begehrt fühlten, wenn sie gebundene Füße hatten. Dadurch wird deutlich, dass diese Qual ein ursprünglich von Männern gefördertes Ideal war. Die Frauen standen unter enormen gesellschaftlichen Druck, vergleichbar nur mit der Beschneidung der Frauen (Genitalverstümmelung) in anderen Ländern.

Den Männern war es außerdem sehr recht, wenn ihre Frauen sich wenig bewegen konnten. Damit waren die Frauen ans Haus gebunden und völlig abhängig von ihren Ehemännern. Sie stellten damit keine Bedrohung für die männliche Oberherrschaft dar.

Die Hilflosigkeit sollte ausserdem den Beschützerinstikt im potenziellen Ehemann wecken, der sich der unselbstständigen Frau annehmen konnte. Die Frau als unterwürfig, hilflos – ein uraltes Klischee, das sich leider zu oft hält.

Hartnäckig hielt sich die Vorstellung, dass der schwankende Gang die Oberschenkelmuskulatur kräftigen und die Vagina verengen würde.

Lotusfüße heute

Die Tradition der Lotosfüße gibt es nicht mehr! Man trifft nur noch selten hochbetagte Frauen, die sich mühsam auf winzigen Füßen vorwärts bewegen. Ich habe sie noch gesehen in den Altstadtvierteln Pekings.

Bereits im 19. Jahrhundert mehrten sich die Stimmen chinesischer Frauen und auch Männern, die sich gegen diese brutale Sitte wandten. Schließlich wurde das Füße Binden gesetzlich verboten. Trotzdem hielt sich die Tradition bis in die 1930er Jahre.

Qiū Jin (1875 -1907), Dichterin und Feministin zu den Lotusfüßen:

Warum lassen wir Frauen uns das gefallen, dass wir unser Leben für zwei Füße opfern, deren Knochen zerquetscht und deren Füße verkümmert sind? (…) Die Ursache liegt nur bei euch selbst, die ihr euch für wertlose Wesen haltet und die ihr nicht danach trachtet, euch beruflich zu qualifizieren, so dass ihr euren Lebensunterhalt selbst verdienen könnt.

Es ist eure Schuld, dass ihr euch immer den Männern anvertraut und eure ganze Energie daran wendet, ihnen zu schmeicheln und tausend neue Wege zu finden, wie ihr euch bei ihnen lieb Kind machen könnt. (Wikipedia)

Nachdem dann langsam die Gesetze konsequent durchgesetzt wurden und diese Sitte ausstarb, kamen auf die Frauen mit Lotusfüßen neue Qualen während der Anfänge der Volksrepublik hinzu. Sie wurden geächtet und teilweise gezwungen, unter großen Schmerzen ihre Füße aufzubinden.

Länge 10,6 cm Hersteller:innen nicht dokumentiert, China 19. Jh. Sammlung C.W. Lüders Inv.Nr. A 145 © MARKK. Edle Schuhe aus Seide für die Lotusfüße.
Länge 10,6 cm Hersteller:innen nicht dokumentiert, China 19. Jh. Sammlung C.W. Lüders Inv.Nr. A 145 © MARKK

Li Kunwu: Lotusfüße

Der 1955 geborene chinesische Zeichner Li Kunwu erzählt vom berührenden Schicksal seines Kindermädchens Chunxin, deren Füße noch zu Zeiten der letzten Kaiser-Dynastie gebunden wurden.

In kurzen Episoden handelt Li Kunwu die verschiedenen Stationen in Chunxins Leben ab – als kleines Mädchen kann sie sich der Maßnahme nicht verweigern, die ihre unbeschwerte Kindheit mit einem Schlag beendet. Als junge Frau genießt sie die vielen Geschenke ihrer zahlreichen Verehrer, die sie ihrer gebundenen Füße wegen begehren. Doch diese kurze Zeit endet abrupt, als 1912 die erste Republik ausgerufen wird. Plötzlich gelten gebundene Füße als rückständig und werden verboten.

Als Mao Zedong 1949 an die Macht kommt, wird Chunxins Bauernhof verstaatlicht. Aufgrund ihrer Füße, die nun als „feudalistischer Plunder“ angesehen werden, wird sie der einstigen Oberschicht zugerechnet, wird diskriminiert und verliert alles. Ein Dasein als Kindermädchen in der Familie Li bietet ihr ein bescheidenes Auskommen.

In ausdrucksstarken Zeichnungen schildert Li Kunwu die Lebensgeschichte. Ein „Comic“ der besonderen Art. Erschienen in Deutschland im Verlag Edition Moderne 2015.

Die Oper „Liberation“

Ich wurde auf meiner Reise in die Provinz Shanxi an die Sitte des Füßebindens erinnert. Denn im Zentrum unseres ersten Gala-Abends in Taiyuan stand die Aufführung von Teilen einer modernen chinesischen Oper. Die Oper heißt „Liberation“ (Befreiung) und hat die Lotusfüße zum Thema. Ich fürchte, die alte Tradition des Füßebindens wird in der Oper wenig kritisch dargestellt.

Die Mädchen mit ihren winzigen Füßen (sie tanzen auf Zehenspitzen in kleinen Schühchen) sehen wunderschön aus, die Musik ist mitreißend. Ich war am Anfang so entsetzt, dass ich unsere Reiseleiterin verwirrt fragte, ob da nicht das Füße Binden verherrlicht wird. „Nein, nein!“, meinte sie erschrocken und bat mich, bis zum Ende zu warten. Ja, es kam zum Beispiel noch eine Sängerin auf die Bühne, die als „alte Frau“ ihr Leid besang, das sie durch die Lotusfüße erfahren hat. Leider habe ich im Internet gar nichts über diese Oper gefunden.

Warum ich nur zwei Fotos von der Oper zeige

Da es anscheinend immer noch Männer gibt, die Lotusfüße perverserweise für schön halten, zeige ich als Beispiel hier nur noch zwei Fotos von der Show. Ich habe allerdings lange überlegt, ob ich diese Fotos überhaupt zeige, denn sie sind ganz und gar nicht dem tragischen Thema angemessen.

Auf der Bühne, junger Mann trägt Mädchen mit ungebundenen Füßen.
Die winzigen Füße der Braut werden bewundert.
Die winzigen Füße der Braut werden bewundert

Auf dem ersten Foto zeigt eine junge Frau begeistert, wie schön ungebundene Füße sind. Auf dem zweiten ist zu sehen, wie bei einer traditionellen Hochzeitszeremonie die kleinen Füße bewundert werden.

Späte Zeugen

Alte Frau in Nordchina - Lotusfüße
Peking 1988: eine betagte Frau bewegt sich nur mühsam mit Hilfe eines alten Kinderwagens vorwärts.

Frieda Fischer

Frieda Fischer (1874 – 1946) hat einige Reisen in den Fernen Osten gemacht, als China noch Kaisereich war. Sie schrieb ein genaues Tagebuch darüber:

Als ich die Herrin des Hauses bat, mir zu vergönnen, daß ich sie und ihre Söhne als Erinnerung im Bilde festhalte, willigte sie gerne ein, doch unter der Bedingung, daß sie sich erst ihr hellblaues Staatskleid anlege und schönere Blumen ins Haar stecke. Ihre hübsche Hauptdienerin (oder Nebenfrau?), deren fröhliches, schalkhaftes Wesen mir besonders gefiel, hatte ein anderes Anliegen. Sie bat, daß man einen Tisch vor sie stelle. Weshalb? Sie ist Chinesin und hat als solche verkrüppelte Füße, deren sie sich in der Mandschuumgebung schämte.

Museum Köln

 „Das jämmerliche Wehklagen eines Kindes am Wegrand ließ mich aufhorchen. Die Mutter versuchte es zu beruhigen, vergeblich. Steif streckte es seine wohl zum erstenmal fest mit Bandagen eingezwängten Füßchen von sich. Das arme Kind konnte das Glück, durch solche Füße dem Ideal weiblicher Schönheit nähergekommen zu sein, noch nicht begreifen.“

Museum Köln

Später gründete sie das Ostasiatische Museum in Köln. Sie leitete es bis 1937, als die Nazis sie rauswurfen, weil sie mit einem Juden verheiratet war. Sie verlor ihren Job und ihr Vermögen. Auch der Zugang zu allem, was ihr lieb war, dessen Gründerin sie war, nämlich das Museum, wurde ihr verwehrt. Völlig verarmt starb sie im Dezember 1945 in Berlin. Frieda Fischer bei Wikipedia.

Fotografin Jo Farrell

Die Fotografin Jo Farrell hat auf ihren Reisen ab 2005 in neun Jahren noch 50 Frauen mit gebundenen Füßen, den Lotosfüßen, gefunden und befragt.

The photographer Jo Farrell tracked down 50 surviving women whose feet had been bound. Many could no longer walk, and kept their disfigurement hidden. Her images reveal the survivors’ strength, determination – and hope

“Ich fragte sie, ob sie noch einmal ihre Füße binden lassen würden, wenn sie die Zeit zurückdrehen könnten. Die meisten von ihnen sagten nein.”

Ein Artikel voller bewegender Geschichten und eindrucksvoller Fotos.

Was haben diese Frauen an Qualen gelitten, um Männern zu gefallen!

Dunhuang 1992

1992 begegnete ich in Dunhuang einer alten Frau bei den Mogao-Grotten. Sie zeigte ihre kleinen Lotosfüße und erbat sich einen kleinen Geldbetrag für’s Fotografieren. Ich habe sie nicht fotografiert, ihr aber trotzdem etwas gegeben. Wie schade, dass ich da noch nicht mit ihr sprechen konnte!

Das Fußbinde-Museum von Wuzhen

Ich möchte nicht unerwähnt lassen, dass es in dem schönen Wasserstädtchen Wuzhen bei Shanghai ein Museum gibt, das sich ganz der Geschichte des Füße Bindens widmet: mehr Ein Besuch des Ortes Wuzhen lohnt sich in jedem Fall!

Museum für Frauen und Kinder in Peking

Schuhe für Lotosfüße im Museum in Peking.

2017 besuchte ich in Peking das Museum für Frauen und Kinder. In der Abteilung „Chinesische Frauen in der Geschichte“ gab es nicht viel über die das Binden der Füße. Interessant finde ich, dass in der betreffenden Vitrine ein altes Foto von chinesischen Prostituierten über den kleinen Schuhen hing.

Diese alte Sitte wird heute noch in Verbindung mit Prostitution gebracht, obwohl die Frauen ursprünglich andere Gründe dafür hatten. Doch es hat wohl Frauen gegeben, die in die Prostitution gingen, wenn es schwierig war, einen passenden Mann zu finden.

Zum Abschluss

„DAS Füßebinden gibt es nicht. In jedem Entwicklungsstadium waren die Bindetechniken, die Schuhstile, der soziale Hintergrund der Frauen und ihre Motivationen unterschiedlich; auch ihre regionalen Unterschiede waren beträchtlich. Letztlich aber war das Binden von Füßen immer durch den utopischen Impuls motiviert, den Körper zu überwinden und den eigenen Status in der Welt zu verbessern.“ Dorothee Ko Encyclopdia of Clothing and Fashion New York 2005

Natürlich gab es auch Frauen, die sich mit Lotosfüßen fast normal bewegten und normale Berufe ausübten. Auch sportliche Betätigungen wie Fahrradfahren waren möglich. Man sollte sich aber nicht darüber hinwegtäuschen lassen, dass es ein schmerzhafter dauerhafter Eingriff in das Leben der Mädchen und Frauen war.

Kommentare

Was mag das für ein Mann sein, der immer noch (2021) Möglichkeiten sucht, die Lotusfüße zu kommentieren, sie als schön zu preisen und mich als Rassistin zu beleidigen? Manchmal frage ich mich, was er tut, um sein sadistisches Ideal heute auszuleben. Ist es „nur“ seine Phantasie oder steckt da mehr dahinter?

Für eine Zeit habe ich jede Kommentare blockiert. Das habe ich nun wieder freigeschaltet. Aber ich gebe keine unangemessenen Kommentare frei.

Links

Über Schönheit und Nützlichkeit der Lotosblume

Auf dem Block Die Gehwerkstatt durfte ich einen Gastartikel zu dem Thema Lotusfüße schreiben. Übrigens geht es auf der Seite hauptsächlich um Themen rund um Orthopädie und entsprechende Schuhe. Sehr ungewöhnlich und hoch interessant!

Frauen im alten China auf dem Bambooblog

Dieser Artikel erschien zuerst im Oktober 2015 und wurde komplett überarbeitet im Dezember 2020.

Ulrike
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24 Gedanken zu „Lotusfüße und die unendlichen Qualen der Frauen“

  1. Danke! Unfassbarerweise hat der Typ es noch einige Male versucht, seine Ansichten zu kommentieren. Er braucht wohl etwas länger, bevor er etwas merkt. 🙂 Weitere Kommentare von ihm werde ich nicht freischalten.

  2. Christian, ich finde, wir sollten das bei Dir auch mal versuchen. Vielleicht checkst du dann, wie schmerzvoll sowas ist. Unfassbarer Kommentar. Kompliment an die Blogbesitzerin, dass du den überhaupt freigeschaltet hast.

  3. Hallo!
    Das ist ein sehr guter Artikel! Die Mutter meiner Grossmutter hatte auch kleine Fuesse. Sie hat immer Schmerzen gehabt und konnte nicht mehr gehen. Ich finde es als Mann und Chinese dass man das nicht schoen finden kann. Das ist eine seltsame Gewohnheit der Vergangenheit, die ueberwunden wurde.
    Grusse aus Beijing!

  4. Da gebe ich Dir vollkommen recht! Die Schühchen sehen hübsch aus. Aber die Füße sehen grauenvoll aus. Muss man nur mal googlen. Hinzu kommt, dass die Füße häufig faulten und stanken.

  5. Wäre mal spannend, wie du das Abbinden empfinden würdest, wenn man das bei dir machen würde? Nur so aus Tradition….
    Nein. Das ist schlimm, was passiert ist und es ist gut, dass es schon lange verboten ist. Und schön aussehen tun die Stummelfüsschen meiner Meinung nach auch nicht.

  6. Das unreflektierte Aburteilen von Leistungen anderer Kulturen ist bestenfalls ein Ausweis eigener Dummheit. Was soll die blöd-sinnige Behauptung, chinesische Männer seien 1000 Jahre Fußfetischisten gewesen? – Die Kraft einer Kultur, die so lange dermaßen geformte Frauenfüßchen verlangen und leisten konnte, ist bemerkenswert. Bevor Feministinnen jaulen, sollten sie erst einmal imaginieren, wie chinesische Männer und Frauen glücklich sein konnten. Auch Glück ist ein historisches und kulturbedingtes Produkt. Versuchsanordnung: Das optimale Füßchen einer wohlversorgten Chinesin von damals, als Europäer noch nicht dazwischen quatschten, zum Kennenlernen in meine Hand!

  7. Das hat doch nichts mit Schönheit zu tun! Hast du nicht gelesen, wie schrecklich die Frauen schon als kleine Mädchen leiden mussten, um diesen verqueren Vorstellungen von Männern zu genügen?? Naja, ist halt so wie meine Mutter schon sagte: „Manche Männer können besser gucken als denken!“
    Übrigens wurde das Füße Binden schon während der Qing-Dynastie in China selbst bekämpft. Das hat also nichts mit westlichen Vorstellungen zu tun.

  8. Warum dürfen solche wunderbar stilisierten Füße nach 1000 Jahren plötzlich nicht mehr unsäglich schön sein?
    Das ist doch ein borniertes westliches Vorurteil.

  9. Hallo Michelle,

    danke für deinen freundlichen Kommentar! Leider gibt es überall auf der Welt fürchterliche Schönheitsideale, die auch die Frauen selbst unterstützen. Ich kann das nicht wirklich verstehen.
    Beste Grüße
    Ulrike

  10. Wow, das ist faszinierend und erschreckend zugleich! Solche Schönheitsideale sind doch schon fanatisch…
    Vielen Dank für den sehr ausführlichen und spannenden Bericht zu solch einem furchtbaren Thema!

    Michelle

  11. Liebe Selda,
    herzlichen Dank für deinen Kommentar! Ich drück dir die daumen, dass es bald klappt mit China. Wenn Du Fragen dazu hast, kannst Du Dich gerne an mich wendne.
    LG
    Ulrike

  12. Liebe Ulrike,
    ein sehr schöner Bericht mit de n Hintergründen der Lotusfüße. Ich habe alle Pearl S.Buck Bücher damals verschlungen. Immer wieder neu gelesen. Ich besorgte mir Hefte und Bücher über China und seine Geschichte. Ich wollte unbedingt in das Land, über das Pearl S. Buck geschrieben hat. Bis jetzt war ich noch nicht da. Vielleicht mache ich den Anfang im nächsten Sommer. Dein Blog habe ich jetzt entdeckt. Den werde ich langsam aber sicher durchlesen.
    Liebe Grüße, Selda.

  13. Furchtbar! Was ein fehl geleiteter Schönheitswahn Menschen, vor allem Frauen, antun kann…
    In Pearl S. Buck’s „Das Mädchen Orchidee“ wird das Füße einbinden auch erwähnt. Tsu Hsi, die letzte chinesische Kaiserin, von der dieser Roman handelt, hatte, wenn ich mich recht entsinne, keine eingebundenen Füße…

  14. Ich mal im Überseemuseum in Bremen eine Ausstellung über die Sitte des Füßebindens gesehen. Auch in China gibt es Museen zu dem Thema. Da sieht man dann nicht nur die kleinen Schühchen sondern auch ziemlich schlimme Fotos und Modelle von den verkrüppelten Füßen.
    Liebe Caro, ich wünsche Dir auch ein schönes Wochenende . Ulrike

  15. Hallo Ulrike,
    Danke für diesen interessanten Beitrag.
    Ich bin dem Link zum Artikel gefolgt und habe die Fotos gesehen. Schlimm. Das habe ich nicht gewusst. Ich habe zwar über Lotosfüße gelesen, aber noch keine Fotos gesehen. Jetzt ja.
    Dir ein schönes WE wünsche ich,
    liebe Grüße, Caro

  16. Hallo Jutta! Die Zehen sind nicht zusammengewachsen, sondern mit Gewalt unter den Fuß gebogen. Dabei werden die Zehenknochen gebrochen. Es muss wirklich sehr schlimm gewesen sein. Es dauert Jahre, bis es nicht mehr wehtut. Ich begreife nicht, wie Mütter ihren Kindern so etwas antun können. LG Ulrike

  17. Puh, ich bin einmal dem Link zum Artikel über Jo Farrells Buch gefolgt: Ein Foto Von „Lotusfüßen“ habe ich noch nie gesehen. Die Vorstellung allein behagt mir schon nicht. Das Foto ist heftig. Da sind ja wirklich alle Zehen zusammengewachsen? Was muss das für ein Schmerz gewesen sein… Furchtbar, aber ein interessantes Thema. Ich muss mich da einmal einlesen. Wünsche dir ein schönes Wochenende! Jutta

  18. Danke für die Tipps! Eigentlich will ich gar nichts mehr darüber lesen. Das war eine Unsitte! Aber es gehörte zum Leben der Frauen früher leider hinzu.

  19. Mich hat in meiner Jugend das Buch von Pearl S. Buck sehr beeindruckt. So sehr, dass ich, als ich es jetzt noch einmal gelesen habe, mich gewundert habe, dass das Füßebinden nur einen ganz kleinen Teil des Buches einnimmt. Ja, es ist schlimm, was Mütter ihrne tüchtern antun, damit die töchter besser verheiratet werden können: Auch die Beschneidung gehört dazu. Und die ist leider ganz und gar nicht ausgerottet.

  20. In dem Buch „Snowflower and the Secret Fan“ von Lisa See wird die grausame Prozedur sehr eindringlich beschrieben. Mir hat das Buch überhaupt sehr gut gefallen. Gut sein soll auch eine Graphic Novel zum Thema namens „Lotusfüsse“ von Li Kunwu, das werde ich mir demnächst mal kaufen.

  21. Als ich als Teenager von dieser (Un)Sitte erfahren haben, löste sie kalte Wut bei mir aus. Erschreckend dabei, dass es patriarchal geprägte Frauen waren, die ihre Töchter und Enkelinnen verstümmelten. Für die Lust von Mann, dessen Hirn vermutlich schon von Geburt an abgebunden war.

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