Die Sehnsucht treibt mich bei schönem Wetter hinaus ins Freie. Der nahe Öjendorfer Friedhof ist mein Ziel. Hier treffe ich nicht auf Menschenmassen, kann alleine sein und das frisch erwachende Leben des Frühlings genießen.
Nur Stille und Ruhe suche ich vergebens. Um mich herum lärmen fröhlich die Enten, singen aus voller Kehle Finken und Rotkehlchen. Was für ein pralles Leben in diesem Park der Toten!
Der Öjendorfer Friedhof
Tief die frische Luft einatmend gehe ich durch die Grabfelder. An vielen Stellen sind die Gräber im Kreis unter alten Bäumen angeordnet. Wie eine Runde grauer gebeugter Männer scheinen sie sich zu unterhalten. Dabei wabern ihre dünnen Stimmen ungehört durch die nebelumhangenen Baumkronen.
Die rund Paar-Anlage wurde 2014 eröffnet und bezieht sich in mehreren Aspekten direkt auf die für den Öjendorfer Friedhof typische Form der kreisförmigen Grabfelder. Die Felder werden jeweils durch eine bogenförmige Natursteinmauer unterteilt. Auf der Mauerkrone wachsen Zierquitten, die im Sommer rot blühen und im Winter kleine, gelbe Früchte tragen.
Die Atmosphäre ist wie verzaubert heute. Nebelschwaden hängen in den kahlen Ästen und die Sonne kommt noch nicht richtig durch, wirkt eher wie ein bleicher Vollmond. Niemand ist unterwegs und so bin ich völlig alleine.
Eine Krähe beäugt mich argwöhnisch und fliegt laut schimpfend davon. Von weitem höre ich einen Specht klopfen.
Tief im Inneren
Ein Auto fährt langsam vorbei. Ja, es gibt eine Straße durch den Öjendorfer Friedhof! Sogar eine Buslinie, der 461er führt quer durch. So kann jeder, der nicht laufen möchte oder kann, bequem die Gräber seiner Lieben erreichen.
Aufgeregtes Entengeschnatter kündigt an, dass ich gleich den Schleemer Bach erreiche. Ein Entenpaar flattert auf die glitzernde Wasserfläche zu und landet mit einem Platsch. Wellen verbreiten sich im Kreis, lassen die Vögel sanft schaukeln.
Ich spaziere weiter an dem ruhigen Bach entlang. Linker Hand liegt die Wiese mit den Naturgräbern. Eine Wiese mit Bäumen umrahmt vom Ufergebüsch. Ein Teil ist den anonymen Urnenbestattungen vorbehalten. Es gibt keine Kennzeichnung der Grabstätte. Die Fläche wird möglichst naturbelassen gehalten. Das erfreut im Sommer die Wildgänse und andere Vögel.
Auch die Maulwürfe wissen das zu schätzen. Überall ragen ihre frischen dunklen Hügel aus dem frühlingsgrünen Gras. Einen Moment lang läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken. Ob die sich mit den Toten vertragen? Oder wird der hier beerdigte Mensch etwa zwangsläufig als Maulwurf wiedergeboren?
Das Rotkehlchen
Ich schüttele mich und gehe nachdenklich weiter. Da fällt mir ein roter Fleck im Gebüsch auf. „Ein Rotkehlchen!“, jubelt es in mir. Das süße Kerlchen schaut mich ruhig mit schiefgelegtem Köpfchen an. Ich halte den Atem an, freue mich.Vorsichtig mache ich einen Schritt in seine Richtung. Der kleine Kerl fliegt bestimmt gleich weg! Doch er regt sich kaum. Noch ein Schritt und ich hebe langsam meine Kamera. Jubel! Das sonst so scheue Vögelchen posiert für mich!
Nach ein paar Klicks senke ich den Fotoapparat und stehe nur noch still und entzückt da. Was für ein Erlebnis!
Ein paar Schritte weiter komme ich zur Stelenwand für die Naturgräber. Wer möchte, kann den Namen des Verstorbene hier mit einer Namenstafel ehren. Bunte Vasen neben den Namensplaketten warten auf Blumen.Die Wand ist bunt, davor stehen Bänke für die Trauernden, die hier ihrer Verstorbenen gedenken möchten.
Noch mehr Gräber
Langsam gewinnt die Sonne an Kraft. In den hellen Strahlen wird es richtig warm. An den Baumwipfeln kündigt sich der Frühling mit zarten rosa und grünen Knospen an. Ich finde einige wenige Krokusse. Es ist noch früh, gerade erst Anfang März.Auf einem frischen Grab leuchten die Blumen der Kränze.
Was für eine Pracht! Ich stelle mir vor, dass der Tote ein fröhlicher Mensch gewesen sein muss, wenn ihm seine Freunde und Verwandten in schöner Übereinstimmung so lebensfrohe farbige Blüten ausgesucht haben.
Geschichte des Öjendorfer Friedhof
Die Stadt Hamburg erwarb 1933 für 2,2 Millionen Reichsmark eine 317 ha große Fläche im damals zu Preußen gehörigen Öjendorf. Das Areal wird heute nur zu einem Teil als Friedhof genutzt, den größeren Teil bildet der Öjendorfer Park mit dem Öjendorfer See.
Das Gelände wurde davor als Kiesgrube genutzt. Nach dem Kauf wurde das Land renaturiert. Am 14. Juli 1966 wurde der Friedhof eröffnet.
Der italienische Ehrenfriedhof
In der Italienischen Kriegsgräberstätte Hamburg-Öjendorf sind 5.857 italienische Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bestattet worden. Größtenteils wurden sie in den Jahren 1956 bis 1958 aus den Bundesländern Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Hamburg und Schleswig-Holstein vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hierher umgebettet.
Die Gräber sind in fünf Gruppen um ein Hochkreuz angeordnet. Sie sind mit Kissengrabsteinen besetzt, auf denen Rang, Name und Vorname bzw. der Hinweis „unbekannt“ oder „Lav. Civ.“ (Zivilist) eingraviert sind. WikipediaIch beobachte zwei Jungen, die von ihren Fahrrädern steigen und zielstrebig zu einem der Grabsteine gehen. Ob dort ein Verwandter von ihnen beerdigt ist?
Mein Spaziergang geht zu Ende
Nachdenklich gehe ich weiter. Drei wundervolle Stunden habe ich hier verbracht. Ich habe nicht alle der verschiedenen Möglichkeiten gesehen, die der Öjendorfer Friedhof bietet, nicht die Gräber der Muslime, der Katholiken, der Sinti oder der vietnamesischen Boatpeople. Viele Gründe, zurück zu kehren. Obwohl: reicht nicht einfach die Schönheit und der Frieden des Ortes, um bald wieder einen Spaziergang über den Öjendorfer Friedhof zu unternehmen?
Infos
Öffnungszeiten
Friedhof (Öffnen und Schließen der Tore)
April bis Oktober von 8 bis 21 Uhr,
November bis März von 8 bis 18 Uhr
Der Friedhof ist an 365 Tagen im Jahr (auch an den Feiertagen) geöffnet.
Beratungszentrum im Verwaltungsgebäude
Montag bis Freitag 9 bis 15 Uhr und nach Vereinbarung.
Anfahrt
Mit dem Bus 461 ab U-Bahnhof Billstedt. Der Bus fährt alle halbe Stunden und hält an mehreren Stopps im Öjendorfer Friedhof
Links
Stadtspaziergänge in Hamburg auf dem Bambooblog:
- Entlang der Wandse von Wandsbek bis zur Alster
- Wandsbeker Gehölz
- Billstedt – Hinterhof Hamburgs
- Das Ahrensburger Tunneltal
- Blohms Park und der wütende Löwe
- 3 Stunden durch Hamburgs Innenstadt
- Linie 2 – Stadtrundfahrt und Spaziergang durch Hamburg
Über den größten Friedhof in Hamburg, den Ohlsdorfer Friedhof, gibt es einen sehr ausführlichen und wunderbaren Artikel auf dem Blog Weltreize. Sehr lesenswert!
Warum ich so gerne auf Friedhöfen spazieren gehe
Jetzt habe ich also begeistert von meinem Friedhofspaziergang erzählt, da guckt mich eine junge Frau entsetzt an: „Auf dem FRIEDHOF???“
Friedhöfe sind anscheinend auch im modernen Deutschland mit einem Tabu belegt. Nein, da geht man nicht einfach so zum Vergnügen spazieren, denken manche. Von der Totenruhe, die man stört, von dem Ort der Trauer und dem stillen Gedenken, ist dann die Rede.
Friedhöfe sind keine Party-Locations – bestimmt nicht! Aber es sind Orte, an denen die eigene Seele zur Ruhe kommen kann, an denen es die in den Städten mangelnde frische Luft gibt und wo Vögel und andere Tiere einen Rückzugsort finden.
Zombies und Wiedergänger habe ich noch nicht erlebt. Ein Friedhof ist, wie der Name schon sagt, ein friedlicher Ort. Ihr solltet keine Scheu haben, mal einen Friedhofsspaziergang zu genießen.
Seit dem Tod meiner Mutter vor über 20 Jahren gehe ich mindestens einmal im Jahr auf einen Friedhof, der nicht allzuweit von meiner Wohnung liegt. Ich habe von ihr eine ehemals wunderschöne Pelzjacke geerbt. Allerdings habe ich kaum Gelegenheit, die Jacke zu tragen.
Deshalb beschloss ich, hin und wieder bei einem Friedhofsspaziergang an sie zu denken und die Jacke zu tragen. Mittlerweile ist der Pelz zu fadenscheinig geworden, um ihn noch zu tragen.
Übrigens liegt auch mein geliebter Stephan auf dem Öjendorfer Friedhof. Ihr könnt Euch denken, dass ich schon oft die friedliche Natur des Friedhofs genossen habe.
Friedhöfe in aller Welt
Auf meinen Reisen schaue ich mir gerne Friedhöfe an. Ich empfinde das auch nicht als gruselig oder morbide.
Friedhöfe erzählen viel über das Leben. In vielen Ländern steht der Beruf beim Namen des Verstorbenen. Manchmal gibt es ein Bild.
Da ist mir der alte britische Friedhof in Calcutta beeindruckend in Erinnerung. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden dort britische Offiziere und ihre Familien beerdigt. Was könnte mehr über das anstrengende Leben fern der Heimat im malariaverseuchten Calcutta erzählen als diese Grabsteine?! Viele Menschen sind nicht älter als 40 oder 50 Jahre geworden. Die Frauen starben deutlich jünger. Manche Frau ist nicht einmal 30 Jahre alt geworden!
Friedhöfe auf dem Bambooblog
- Der britische Friedhof in Calcutta
- Das Qingming-Fest in China: Tomb Sweeping Day
- Wanderung am Emeishan, Sichuan
- Der jüdische Friedhof Wandsbek
- Schah-e Sende in Samarkand
- Das Grab des Konfuzius in Qufu
- Das Grab des Matteo Ricci in Peking
und mehr. Einfach auf meinem Blog nach „Friedhof“ suchen!
- Kaffee in China – eine erstaunliche Entwicklung - 6. Oktober 2024
- Der Orient: Länder der Seidenstraße - 29. September 2024
- Shanghai Pass für ganz China! - 22. September 2024
Liebe Kasia,
danke für Deinen ausführlichen Kommentar! Die Geschichten der Verstorbenen fehlen in Öjendorf, dazu ist der Friedhof zu jung. Trotzdem ist er schön. Friedhöfe und das Verhältnis zu den toten Ahnen sollte man viel mehr ins Leben integrieren. Sobald ich wieder los kann, werde ich auch wieder auf eine der Inseln fahren. Auch Hannover, meine alte Heimat, hat schöne Friedhöfe.
Liebe Grüße
Ulrike
Liebe Ulrike,
das hast du sehr eindrucksvoll beschrieben. Ich mag Friedhofe unheimlich gerne, sie haben eine so besondere Atmosphäre. Das kann nicht jeder verstehen. Meine Mutter zum Beispiel findet diese Orte sehr morbide und schauerlich, sie erinnern sie zu sehr an das Ende des Lebens, an das Vermissen von geliebten Menschen.
Erst neulich war ich unterwegs auf dem Mannheimer Hauptfriedhof. Eine schöne, große Grünanlage. Am meisten interessieren mich die sehr alten Gräber mit ihren moosbewachsenen Skulpturen. Es ist faszinierend, die Inschriften zu betrachten, die eingravierten Zahlen. Manche der Menschen starben hundert oder fast zweihundert Jahre, ehe ich zur Welt kam. Das ist ein schwer zu fassender Gedanke.
Wenn du Friedhöfe magst, kann ich dir die Nordseeinseln empfehlen. Föhr im Speziellen. Die Grabsteine dort erzählen regelrecht eine Geschichte über das Leben der Verstorbenen. Wer waren sie? Welchem Beruf gingen sie nach? Hatten sie Familie? Kinder? Wer hat sie betrauert? All die Fragen, die man sich normalerweise oft beim Betrachten der Gräber stellt.
Langer Rede kurzer Sinn: ein schöner Beitrag 😉
Liebe Grüße
Kasia